Junus ist schon vor einer Stunde weg. Er studiert hier in Irland Medizin.
Nach dem Frühstück verlassen Beliar und ich gemeinsam die Wohnung. Vor dem Wohnhaus trennen sich unsere Wege. Zum Abschied küssen wir uns fast bis zur gegenseitigen Besinnungslosigkeit. Dieser Mann macht es mir echt nicht leicht, den Keuschheitsgürtel anzubehalten.
„Dann bis später Beliar“, ist mein jämmerlicher Versuch, ihn abzuwimmeln, bevor wir hier wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet werden.
Im nächsten Augenblick küsst er galant meine Hand. Dabei lässt er mich keine Sekunde lang aus den Augen. Mann, wie ich auf diese Eroberungsnummer stehe, die er ständig mit mir abzieht.
Beliar haucht mit funkelnden Augen: „Ich sollte gehen, bevor ich dich über meine Schulter werfe und dich zurück in das Bett entführe, das du heute viel zu früh verlassen hast.“ Was für ein verlockender Gedanke.
„Ich bin aber gar nicht mehr müde“, kontere ich, während ich mir lasziv in die Unterlippe beiße.
„An Schlaf hätte ich auch nicht gedacht“, erklärt er. Meine Fresse, wieso ist es plötzlich so heiß hier draußen? Eigentlich herrscht tiefster Winter.
„Du scheinst das Bett noch nicht verlassen zu haben, da du augenscheinlich noch träumst“, spotte ich frech grinsend.
Er sieht herausgefordert aus, entfernt sich aber schrittweise von mir. „Warte es ab, bis ich nach Hause komme. Dann zeige ich dir, wie nahe Traum und Realität beieinanderliegen können.“ Schmacht. Okay, ich muss mich an meinen Übungen abreagieren oder kalt duschen. Dieser Kerl bringt mich um den Verstand. Lächelnd ziehe ich mir die Mütze weiter über meine Ohren und schreite davon.
Das kleine Studio ist schnell erreicht. Ich habe es gemietet, kann hier also ungestört trainieren. Es gibt eine große Übungshalle, die mir in der Zeit ganz allein gehört – wie die Fabrikhalle damals in New York.
Heute will ich an meiner Beweglichkeit arbeiten und dabei am Reck turnen. Aber erst mal wärme ich mich auf – also genaugenommen meine Muskeln, mein Inneres ist noch durch die Glut von Beliars Küssen erhitzt.
Da er diesmal nicht dabei ist, ziehe ich meine eigentliche Turnbekleidung, eng anliegende, kurze Shorts und ein bauchfreies, ebenso knapp geschnittenes Oberteil an.
Ihm zuliebe hab ich in langer Turnkleidung meine Übungen absolviert. In der Zeit, in der er lebt, sind sie ja in der Hinsicht ein bisschen bedeckter. Zumindest unten rum – das Bild meines Mieders im Hinterkopf habend.
Ich wollte nicht, dass er denkt, ich will ihn scharfmachen, wenn ich in „Unterwäsche“ vor ihm turne, denn für genau das würde er es halten.
Nach einer Stunde Aufwärmzeit beginne ich mit dem eigentlichen Training. Dazu drehe ich die Musikanlage bis auf Anschlag auf. Zu den Klängen von „ O Fortuna “ von Carl Orff trete ich an die Reckstange heran, atme tief durch, tauche in eine andere Welt ein und ziehe mich beim ersten Paukenschlag hoch.
Daraufhin beginne ich mit Äquilibristik – der Kunst sich zu verbiegen. Heute habe ich vor, an meine Grenzen zu gehen. Ich will sehen, wie weit ich es schaffe, meinen Körper zu beherrschen, damit er alles tut, was ich will.
Meine Bewegungen sind stetig und kraftvoll. Zum ersten Mal möchte ich versuchen, mich komplett zurückzubiegen und meine ausgestreckten Beine in einer Kreisbewegung um meine eigene Achse zu führen. Das ist ziemlich abartig, aber ich will das unbedingt können. Dabei muss ich immer öfter vor Anstrengung stöhnen. Es klappt aber ganz gut.
Im nächsten Augenblick hänge ich mich rücklings über das Reck und umfasse meine Beine fest. Als die Musik ihren Höhepunkt erreicht, drehe ich mich um die Stange herum, hebe ab und mache Saltikombinationen in der Luft.
Immer wieder schraube ich mich hoch, lasse mich durch die Luft gleiten, nur um mich beim nächsten Paukenschlag erneut hoch zu katapultieren. Abschließend hole ich großen Schwung, der mich nach ein paar Salti in der Luft zurück auf den Boden bringt.
Genau in diesem Moment ist die Musik zu Ende. Ich strecke beide Arme seitlich weg und lege den Kopf in den Nacken.
Ganzheitliche Euphorie lässt mich alles um mich herum vergessen. Ab jetzt fühle ich nur noch. Die herrschende Stille wird nur von meinen schnellen Atemzügen durchbrochen – und von einem Räuspern, das mich herzinfarktmäßig zusammenzucken lässt. Es kam von Junus – und er ist nicht allein.
„Heiliger Odin“, stößt Tiberius, Beliars Vertrauter, mit schreckgeweiteten Augen aus. Beliar selbst mustert mich intensiv. Neben ihm stehen zwei Männer, die mir unbekannt sind und eine, in einen Umhang mit Kapuze verhüllte, Gestalt.
Den Männern steht die Verblüffung über meine Vorstellung ins Gesicht geschrieben. Na wunderbar. Wieso sagt mir Beliar nicht, dass er mich besuchen kommt und Gäste mitbringt. Dann hätt ich mir was angezogen – und eine andere Musik eingelegt. Der Gefangenenchor hört sich etwas gruslig an. Das hat sie sicher in ihren abergläubischen Grundfesten erschüttert. Nun stehe ich hier halbnackt mit schweißnassem, keuchendem Körper vor ihnen und frage mich, wie um alles in der Welt ich reagieren soll, nachdem niemand ein Wort sagt.
Beliar erlöst mich nach ein paar Sekunden: „Darf ich vorstellen: Hailey Olivia Prudence Enya Dewitt beau Ador. Hope das sind der Seher Nadar und seine Begleiter.“
Okay, das ist also die Überraschung, die er für mich vorbereitet hat. Eigentlich hatte ich an Candle-Light-Dinner und Blumen gedacht, aber hey, kein Thema, er ist wohl nicht so der romantische Typ.
Hey warte mal, der Seher ist doch der Kerl, der Beliar gesagt hat, wie er die Ador-Hexe erkennen kann. Da lag er wohl falsch, denn ich hab keine abstehenden Ohren.
Bevor ich etwas erwidern kann, stößt die Kapuzengestalt ein ärgerliches „ Nein “ aus. Nein? Was soll das heißen? Dass Beliar seinen Namen falsch gesagt hat?
Sogleich ergänzt der Typ: „Sie ist nicht die Ador-Hexe.“ Wie nett.
Beliar scheint von den Worten dieses Trottels nicht überrascht zu sein, was mich unsagbar wütend macht.
Fuchsteufelswild schnaube ich: „Ich weiß, wer ich bin. Was Ihr sagt, ist irrelevant.“ Genervt stapfe ich zur Bank und schnappe mir mein Handtuch, mit dem ich mir erst mal die schweißnasse Stirn abwische.
„Ich hatte eine Vision“, informiert mich der Quacksalber. Schön für dich, du Psycho . „Ich sah die Ador-Hexe und sie trug nicht Euer Gesicht“, ergänzt er.
Na warte, Schwachkopf. Energisch kontere ich: „Ich habe nicht vor, meine Worte an Euch zu verschwenden, daher mache ich es kurz. Ich bin Hope Dewitt beau Ador. Ich weiß es und mein Bruder weiß es auch. Sagst du dazu vielleicht auch mal was oder glotzt ihr mich alle nur an ?“, raune ich erbost. Die Männer senken ertappt ihre Blicke. Schnell streife ich mir meinen Pullover und die Hose über.
Junus verkündet: „Mein Name ist Jan Utok Nael Ulivus Slevin Dewitt beau Ador und ich sage, dass die Frau, die hier vor uns steht, meine Schwester ist. Bei meinem Leben.“ Mit einem Siehst-du-Ausdruck mustere ich die verhüllte Gestalt.
„Ich bestreite nicht, dass du, Junus, ein Ador bist. Ich sage, die Hexe ist keine. Ihr seid von unterschiedlichem Blut“, behauptet der verhüllte Quatschkopf.
„Das muss ich mir nicht weiter antun“, stoße ich erbost aus. Ich will schon die Halle verlassen, da halten mich die Worte meines Bruders zurück.
„Dann werden wir Euch vom Gegenteil überzeugen. Ein Bluttest wird beweisen, dass wir gleicher Abstammung sind. Wozu gibt es DNS-Analysen, die unser Erbgut vergleichen. Immerhin sind wir hier im 21. Jahrhundert“, verkündet Junus selbstsicher.
Erneut schnaube ich. „Niemand sollte es wagen, unsere Abstammung infrage zu stellen“, stoße ich fuchsteufelswild aus. „Ich spüre, dass du mein Bruder bist und du spürst es ebenso. Wir haben gemeinsame Kindheitserinnerungen. Sowohl an unsere Eltern, als auch an meine Flucht in diese Welt. Vor niemandem werden wir uns rechtfertigen. Wir brauchen keinen Test, um uns gegen diese Anschuldigung zu verteidigen.“
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