„Danke, Herr Franko! Oberst Scrubbs wird Sie gleich abholen. Sie können dort auf dem Stuhl Platz nehmen.“
Cyrus wurde es nun zu bunt. Oberst Scrubbs. Deutsche Uniformen, englische Formulare. So ein Blödsinn. „OK, Gentlemen. Sie können mit dem Theater aufhören. Ich weiß, das ich hier zum Deutschen gemacht werden soll aber ...“
„Dienstanweisung! Hier wird Deutsch gesprochen und englisch gedacht. Oberst Scrubbs wird Sie einweisen. Nehmen Sie bitte Platz, mein Herr ...“, antwortete sein Gegenüber mit ernsthafter Stimme und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Gleich darauf begann die Schreibmaschine zu rattern. Es war wirklich sehr deutsch hier.
Cyrus wartete etwa eine halbe Stunde und lauschte dabei den deutschen Nachrichten, die aus dem Radio Erfolgsmeldungen im Kampf gegen die anrückenden Alliierten in Frankreich hervorsprudelten. Schließlich wurde die Tür geöffnet und der Offizier hinter der Theke sprang auf und nahm Haltung an.
Cyrus blickte überrascht zur Tür. Dort stand ein deutscher Oberst, der lässig seine Hand zum Hitlergruß hob und müde „Weitermachen“ murmelte. Er trat auf Cyrus zu und begrüßte ihn auf deutsch. „Hallo, Herr Franko! Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug. Ich muss mich entschuldigen. Aber heute Abend hat es im Reich einige interessante Entwicklungen gegeben, die wir am Radio mitverfolgen konnten! Hochinteressant. Kommen Sie!“
Der Oberst führte Cyrus über den Burghof in das Hauptgebäude, den Palas der Burg. Da dieser fast vollständig mit Efeu bewachsen war, hatte es in der Dunkelheit Ähnlichkeit mit einer Kulisse aus einem Dracula-Film. Jeden Moment erwartete Cyrus, dass ihm Bela Lugosi mit seinem Fledermaus-Cape entgegen flatterte.
Sie traten in die Empfangshalle, die bis auf einen großen Kamin, der den ganzen Raum durch seine wuchtige Größe beherrschte, leer war. Über dem Kamin hing eine Hakenkreuzflagge. Cyrus kratzte amüsiert sein Kinn. „Finden Sie das alles hier nicht ein wenig ... wie war noch gleich das richtige deutsche Wort? Overacted ... über ...“
„... trieben?!“ ergänzte der Oberst, ohne sich umzudrehen. Zackig stiefelte er Cyrus voran eine breite knarzende Holztreppe hinauf. „Nein ... Herr Franko, nicht im Geringsten. Wie Sie vielleicht selbst bemerken, fehlt Ihnen ein wenig Training, was Wortschatz und Aussprache anbetrifft. Und wir haben nur wenig Zeit, um Sie auf Ihren Auftrag vorzubereiten.“
Sie erreichten einen langen Flur an dessen Ende Oberst Scrubbs eine kleine Eichenpforte öffnete und grinsend beiseite trat. „Ihre Stube!“
Cyrus trat mit einem Seitenblick auf den Oberst ein. Die Stube war spartanisch eingerichtet. An der Wand standen vier graue Metallkleiderschränke und zwei ebenfalls metallene Etagenbetten, auf denen grobe braune Decken mit der Aufschrift „Wehrmacht“ lagen. In der Mitte des Zimmers ein einfacher Tisch mit vier Holzstühlen, auf dem einige Illustrierte und Zeitungen aus Deutschland lagen. An der Wand hing ein Kalender mit Alpenmotiven. Sonst gab es nicht viel. Das ganze Mobiliar versprühte den Charme eines preußischen Kasernenhofes. Cyrus vernahm die schnarrende Stimme des Oberst.
„Ihre Legende in Deutschland wird Soldat auf Urlaub sein. Suchen Sie sich ein Bett aus. Sie sind alleine hier untergebracht. Im rechten Spint finden Sie eine komplette Uniform der Wehrmacht. Infanterieregiment 45. Obergefreiter Müller. Ab morgen früh werden Sie sich verhalten wie ein deutscher Obergefreiter. Wecken ist um sechs. Antreten um sieben auf dem Burghof. Gute Nacht, Obergefreiter Müller.“
Scrubbs schloss die Tür. Cyrus schaute auf den Spint und die Betten. Unmerklich schüttelte er den Kopf. Er hatte von vielen seltsamen Einrichtungen des SOE, OSS, COI, SSI und wie sie alle hießen, gehört. Dies hier aber war mit Abständen die Sonderbarste.
„Ich hoffe Sie haben gut geschlafen, Obergefreiter Müller!“ Oberst Scrubbs grinste von Ohrläppchen zu Ohrläppchen. „Albert Müller, um genau zu sein! Hier ist Ihre Legende! Lernen Sie sie auswendig!“
Der Oberst saß hinter einem breiten Schreibtisch, griff in eine Schublade, zog eine rote Mappe hervor und warf sie Cyrus über den Tisch zu. Über Scrubbs Kopf hing ein mittelgroßes Hitler-Portrait. Der Führer blickte starr nach links, die Hände als Fäuste in die Seiten gestemmt. Cyrus unterdrückte ein Gähnen.
Gegen sechs, nach etwa vier Stunden Schlaf, war er von einem deutschen Unteroffizier geweckt worden. Frühstück mit zehn anderen Männern in deutschen Uniformen. Schwarzbrot, Magarine, Blutwurst. Eine dünne Tasse Kaffee dazu. „Muckefuck“, wie ihm ein gelangweilter Koch erklärt hatte. Die Männer unterhielten sich auf Deutsch. Im Innenhof von Carisbrooke-Castle traten sie unter gebrüllten deutschen Kommandos an. Anschließend wurde er zum Rapport in Scrubbs Büro geschickt.
„Die Zeitverschiebung macht mir etwas zu schaffen“, antwortete Cyrus kurz und sah den Major an, dessen Blick über Cyrus deutsche Uniformjacke huschte. „Machen Sie bitte alle Knöpfe zu“, herrschte der Oberst, „wir sind hier nicht bei den Inselaffen.“ Cyrus seufzte und tat wie ihm geheißen.
„Könnten Sie mir jetzt bitte erklären, was das alles hier soll?“
„Ja sicher, Herr Obergefreiter!“, antwortete Scrubbs, stand aus seinem quietschenden Bürostuhl auf, kam um den Tisch und setzte sich auf dessen Kante. Er legte die Hände lässig in den Schoß und Cyrus blickte in zwei schwarze Augen, die fast an der Nasenwurzel zusammenstießen. Dann begann er fließend auf deutsch mit leichtem englischen Akzent zu erzählen: „Vor ein paar Wochen waren wir hier noch eine ganz normale ALSOS-Dienststelle. Haben Wissenschaftler für die ALSOS-2-Mission ausgebildet. Physiker, Chemiker, Mathematiker usw. Das sind die Kerle, die hinter unseren Truppen in Frankreich nach abgetauchten Naziwissenschaftlern, -Anlagen, -Geräten und -Akten ihrer Atomforschung fahnden sollen. Eine hochspezialisierte Kehrmaschine also. Es gibt noch zwei weitere ALSOS-Missionen: 1 steht für Italien, 3 für Deutschland. Wir hier in Carisbrooke waren als erste fertig mit unseren Wissenschaftlern. Also haben wir in den letzten zwei Wochen ein wenig umgebaut, als wir den Befehl bekamen, einen Agenten auszubilden, der im Herzen Deutschlands abgesetzt werden soll. Das ist, ehrlich gesagt, eine etwas knifflige Angelegenheit, Herr Obergefreiter. Bis jetzt gab es keine Einsätze von alliierten Agenten im Reich. Jedenfalls keine, von denen ich wüsste.“ Scrubbs ließ seine Daumen in der gefalteten Hand umeinander kreisen. „... und ich halte es nach wie vor für Wahnsinn, jemanden nach Deutschland, ins Herz der Finsternis zu schicken. Die Gründe dürften Ihnen wie mir klar sein. Es gibt keine uns bekannte Widerstandsorganisation, die mit Erfolg gegen die Nazis operiert. Das bedeutet: keine Anlaufpunkte, keine Ruheräume, kein Nachschub für defektes Gerät, keine Informanten, keine Hilfe im Notfall, nichts. Stattdessen fanatisierte Nazis, die praktisch überall hocken können. In Geschäften, auf Straßen, in Bussen, Zügen, Bauernhöfen. In Gestalt von Kindern, Greisen, Frauen, Priestern, Arbeitern, Krankenschwestern, Zeitungsverkäufern. Die einzige Gruppe, von denen wir glauben, dass sie sich uns gegenüber loyal verhalten, sind die sogenannten Hilfswilligen. Verschleppte Männer und Frauen aus ganz Europa. Die Deutschen nennen sie Beutegermanen. Diese Leute agieren zunehmend selbstständiger und sind häufig nicht unter Aufsicht. Den Nazis fehlen die Aufpasser. Teilweise bewirtschaften die Zwangshilfswilligen ganze Höfe und Kleinbetriebe mit nur minimaler Aufsicht.
Wir allerdings gehen davon aus, dass sie nicht organisiert sind. Aber sicher sind wir uns da auch nicht. Wir haben einfach keinen Kontakt zu ihnen. In den letzten Jahren ist nicht viel aus dem Reich nach außen gedrungen. Was wir wissen, haben uns Flüchtlinge erzählt, und außerdem gibt es da noch ein recht effektives Programm, Kriegsgefangene zur Mitarbeit zu bewegen. Das sind im Großen und Ganzen unsere Quellen, aus denen wir aktuelle Informationen zur Situation im Reich beziehen. Die Männer, mit denen Sie heute morgen angetreten sind, sind übrigens übergelaufene Kriegsgefangene.“
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