„Wieder zuhause, Sir?“
Cyrus setzte sich gerade hin. Hals und Nacken schmerzten. Irritiert schaute er den Steward an und versuchte seine Gedanken zu ordnen, um eine vernünftige Frage zu formulieren. Seine Zunge klebte am Gaumen.
„Ist dies der Naval-Flug 33 ... 3317?“
„Ja, Sir, Sie sind richtig hier. Sind kurz nach dem Start eingenickt und haben bis jetzt geschlafen. Das ist rekordverdächtig. Sind fast 16 Stunden. In gut zwei Stunden landen wir in Southhampton. Ich glaube, ich bringe Ihnen mal einen starken Kaffee, Sir.“
Cyrus ließ erschöpft seinen Kopf zurückfallen. „Das wäre nett!“
Der Steward verschwand und Cyrus versuchte sich auszustrecken. Seine Glieder schmerzten, als hätte er mit Joe Louis drei Runden im Ring verbracht.
Der Steward kehrte mit einer dampfenden Tasse Kaffee zurück. Er musste sich festhalten, denn das Flugboot flog durch bewegte Wolkenschichten und rüttelte den schweren Rumpf dabei kräftig durch.
„Das hört gleich wieder auf, Sir! Keine Angst. Wir gehen nur langsam tiefer. Dabei müssen wir einige Wolkenschichten durchstoßen.“
Cyrus nahm die Tasse dankbar entgegen und rang sich ein Lächeln ab. Er bedankte sich beim Steward und blickte wieder zum Fenster hinaus. Im dämmrigen Abendlicht konnte er einzelne weiße Schaumkronen auf dem Wasser unter sich erkennen. Cyrus legte seinen Kopf zurück und starrte an die Decke, während er an der Tasse nippte. Noch zwei Stunden bis zur Landung.
Als das Flugboot endlich im Hafen von Southhampton landete, war die Sonne bereits untergegangen. Cyrus spürte einen heftigen Ruck, als der Rumpf der Boeing 314 auf dem Wasser aufsetzte. Er drückte seine Nase an die Scheibe und versuchte durch das Fenster etwas von der Stadt am Solent zu erkennen. Aber anders als in Amerika waren hier Verdunklungsvorschriften in Kraft. Er sah nichts außer den dunklen Schemen einiger Schiffe, die im Widerschein roten Lichts beladen wurden. Denn Southhampton war, wie die meisten Häfen an der südenglischen Küste, Ausgangshafen für die Invasion. Obwohl diese schon ein paar Wochen in Gange war, wurde hier täglich Nachschub nach Frankreich verschifft. Die Materiallawine rollte unaufhaltsam über den Kanal und brandete an der französischen Küste.
Die Boing hatte zwei ihrer vier Motoren abgestellt und fuhr zwischen den riesigen Leibern der Landungsschiffe, Frachter, Zerstörer und Landungsboote hindurch bis zur Anlegestelle. Als sie festgemacht hatten, verließ Cyrus mit den anderen Passagieren das Flugboot, betrat den Steg, nahm seine Reisetasche entgegen und ging schnellen Schrittes zum Kai. Dort warteten bereits die Fahrer verschiedener Militär-PKW, um ranghohe Offiziere abzuholen. Ein Mann trat ihm aus dem Durcheinander der Menschen und Koffer entgegen und rief seinen Namen. „Mr. Franko?“
Vor Cyrus baute sich ein Hüne in einer abgetragenen grünen Tweedjacke auf. Auf dem Kopf klebte eine schmutzig braune Schlägermütze, unter der militärisch kurz geschnittene blonde Haare zu sehen waren. Das Gesicht, soviel Cyrus in der Dunkelheit erkennen konnte, war kantig, mit einem imposanten Kinn und ausgeprägten Backenknochen. Weiter trug er eine braune Hose mit Hochwasser und übergroße ausgetretene Straßenschuhe. Insgesamt hatte der Mann etwas von einem Londoner Dockarbeiter.
„Sind Sie Mr. Franko? Man hat mir gesagt, dass ich Sie hier abholen und nach Carisbrooke Castle bringen soll.“
Tatsächlich sprach der Hüne mit einer tiefen Bassstimme ein nur mühsam unterdrücktes Cockney. Cyrus musterte ihn eingehend: „Das bin ich. Könnten Sie mir bitte diese verdammte Tasche abnehmen?“
„Klar Meister! Randolph Spoke, mein Name!“
Spoke nahm die Tasche, drehte sich um und marschierte in die Dunkelheit. Cyrus musste sich beeilen, ihm zu folgen. Der langbeinige Kerl lief den dunklen Kai entlang bis zu einer Einlassung, von der eine Treppe hinunter zum Wasser führte. Im blauschwarz glitzernden Wasser lag ein öliges, verrostetes Fischerboot. Spoke sprang hinein, Cyrus folgte ihm und suchte sich ein vermeintlich sauberes Plätzchen, während Spoke die Leinen los warf und den Motor startete.
Glucksend und spuckend nahm der Kutter Fahrt auf und Spoke schaukelte den rostigen Kahn bedächtig durch die verstreut ankernden Schiffe.
Bald hatten sie den Hafen verlassen und fuhren unter ohrenbetäubendem Rattern auf den Solent hinaus. Ein halbe Stunde brauchten sie, um die Meeresenge zwischen dem Festland und der Isle of Wight zu erreichen. Dort begann die starke Dünung das Schiff heftig zu schütteln. Wenig vertrauenerweckend warf es sich von einer Seite auf die andere.
„In einer Viertelstunde sind wir in Cowes, Meister!“
Cyrus versuchte durch die Dunkelheit hindurch zu spähen und erkannte vor sich eine dunkle Küstenlinie, bei der es sich wohl um die Isle of Wight handeln musste.
„Alles klar, Meister?“, rief Spoke gut gelaunt.
„Alles klar!“, anwortete Cyrus und hielt sich an der Bordwand fest.
Auf der Insel angekommen, packte Spoke Cyrus in ein klappriges Motorrad mit verrostetem Beiwagen und jagte anschließend durch die hüglige, nächtliche Landschaft der Insel. Mit verdunkeltem Scheinwerfer und in halsbrecherischen Tempo passierten sie schließlich das schlafende Newport und bogen in einen Schotterweg ein, der an viktorianischen Villen hinauf nach Carisbrooke Castle führte.
Als der Mond für einen Moment durch die Wolken brach, erkannte Cyrus von Rasen überzogene Wälle, die die gesamte Anlage umschlossen. Innerhalb der Wälle folgte ein mittelalterlicher Mauerring, in dessen Mitte die Zinnen eines Burgfrieds düster in den Nachthimmel stießen. Carisbrooke Castle war allem Anschein nach kaum mehr als eine Ruine.
Spoke reduzierte das Tempo und lenkte das Motorrad über eine schmale Brücke, die einen dunklen Graben überspannte. Vor einem mit Schlagbaum versehenen Burgtor stoppte er und sprang elegant vom Motorrad.
„Warten Sie eben, Meister!“
Cyrus sah, wie er mit einem Wachsoldaten ein paar Worte wechselte. Dann kehrte er zurück und gemeinsam fuhren sie durch das enge Torhaus in den Hof der Burg. Spoke stellte das Motorrad ab und half Cyrus, sich aus dem Beiwagen zu schälen. Aus dem Stauraum zerrte er anschließend Cyrus' Reisetasche hervor und reichte sie ihm.
Mit einer lässigen Handbewegung deutete Spoke auf ein kleines Haus direkt neben dem Tor. „Da is' die Wachstube! Geh'n Se da mal rein und warten. Wird gleich einer kommen.“
Cyrus nickte und zog seinen Anzug glatt. Sich auf dem Hof umschauend ging er hinüber zur Wachstube, öffnete die Tür und erschrak. Hinter einer langen Theke stand ein Mann mittleren Alters in einer deutschen Offiziersuniform. Cyrus hielt noch die Türklinke in der Hand, als der Mann ihn auf Deutsch aber dennoch mit unüberhörbarem britischen Akzent ansprach: „Machen Sie bitte die Tür zu, Herr Franko! Die Verdunklungsvorschriften, Sie verstehen.“
Cyrus schloss irritiert die Tür und trat ein. Neugierig blickte er sich um. Hier war alles deutsch! Ein Bild von Adolf Hitler, daneben Nazi-Plakate die vor feindlichen Agenten warnten. Über die gesamte obere Hälfte der rechten Stirnseite zog sich ein großes Spruchband: Mit dem Führer bis zum Endsieg . Auf der Theke ein Volksempfänger, aus dem leise eine deutsche Sängerin trällerte. Der „deutsche“ Wachoffizier setzte ein schiefes Lächeln auf und winkte Cyrus zu sich heran. An einem Schreibtisch hockte noch ein zweiter deutscher Soldat. Ein Formular lag vor Cyrus auf der Theke und der Offizier tippte mit dem Finger darauf. „Ordnung muss sein! Herr Franko. Würden Sie sich bitte eintragen.“
Das Formular war auf englisch. Hier geht einiges durcheinander, dachte Cyrus, der seinen Schrecken herunter geschluckt hatte. Schnell trug er Namen, Einheit und Dienstgrad ein. Kopfschüttelnd schob er es über die Theke.
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