Sie erzählten Cyrus vom eher verhaltenen Enthusiasmus, als Hitler zuerst im Sudetenland, dann in der Tschechoslowakei und schließlich in Polen eingefallen war. Viele Soldaten waren mit Widerwillen in den Krieg gezogen. Aber die vielen Erfolge im ersten Kriegsjahr, die kaum Opfer gefordert hatten, brachten Zweifler zum Schweigen, und schließlich trat die Bereitschaft ein, Augen zu verschließen und über tägliches Unrecht und Verbrechen des Regimes hinwegzusehen. Hitler und seine Komplizen hatten es tatsächlich geschafft, aus der deutschen Bevölkerung, so vielfältig sie auch dachten und fühlten, eine Schicksalsgemeinschaft in ihrem Sinne zu formen. Vor allem seit eine ganze Armee in Stalingrad eingeschlossen worden war, hatten viele erkannt, dass es kein Zurück mehr gab. Mitgefangen – mitgehangen.
Natürlich gab es auch viele, die den Großmachtphantasien in reinster brauner Prägung nachhingen, aber die waren von der Front und damit von der Wahrheit weit entfernt. Man belächelte sie, wenn sie einen nicht vor ein Standgericht brachten oder versuchten am nächsten Baum aufzuhängen.
Aber um diese Daheimgebliebenen ging es Cyrus. Immer wieder fragte er nach den Bedingungen, unter denen ihre Verwandten nun im fünften Kriegsjahr lebten.
Der Hass auf die Alliierten habe sich durch die dauernden Bombenangriffe natürlich verstärkt, erklärten sie Cyrus. Es hätte auch schon Fälle von Lynchjustiz an abgestürzten Piloten gegeben. Ansonsten aber sei die Lage nicht so verzweifelt wie im ersten Weltkrieg. Es gäbe genug zu essen und für die Ausgebombten werde mit Suppenküchen und Einquartierungen gesorgt. Niemand hungere. Von den Kriegsgefangenen und Arbeitswilligen, die überall in Fabriken anzutreffen seien einmal abgesehen. Kurz: Die Partei umsorgte ihre Volksgenossen. Die Wochenschauen zeigten lachende Kinder die aus Zügen ihren Müttern zuwinkten. Zeigten Suppenküchen, die mit großen Kellen heißen Eintopf ausgaben und fleißige HJ-Burschen, die in selbstlosem Einsatz den Menschen halfen.
Mit geradezu stoischer Ruhe hätten sich die Menschen im Krieg eingerichtet. Das Leben gehe ja weiter. Davon geht die Welt nicht unter, sänge Zarah Leander. Was solle man auch machen. Für Widerstand sei es ja eh zu spät.
Cyrus bekam den Eindruck eines Volkes, das tief im Innern bereits ahnte, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis die Welt an ihr Rache nehmen würde. Es war nur die Frage, wie schlimm die Rache ausfallen würde. Von den Russen erwarte man jedenfalls das Schlimmste. Von den Engländern und besonders den Amerikanern dagegen eine faire Behandlung. Deshalb werde im Osten auch zäher gekämpft als im Westen. Die Russen, ja die Russen ...
Zwischen all den Gesprächen, die er mit den deutschen Gefangenen führte, besuchte Cyrus Kurse. Er lernte Sütterlin verhältnismäßig schnell schreiben und vor allem lesen. Bei einer ältlichen Deutschen, deren Namen er nie erfuhr, erhielt er Sprechunterricht und wurde von ihr angehalten, den rheinischen Dialekt nachzuahmen, da seine Legende ihn als einen Kölner Obergefreiten ausgab. Dazu erteilte sie ihm Unterricht in deutscher Geografie und deutscher Geschichte, ihn ständig sprachlich berichtigend.
Randolph Spoke bildete Cyrus in einem mittelgroßen Wagenpark deutscher Herkunft aus. Er war außerordentlich stolz auf die zahlreichen Beutestücke, die nach der Landung in der Normandie in Carisbrooke eingetroffen waren. Er brachte Cyrus bei, wie man deutsche PKW's und LKW's kurzschloss, erklärte Straßenverkehrsregeln, Nummernschilder und Verdunkelungsvorschriften im Verkehr. Ein besonderes Steckenpferd aber war ein Opel Blitz mit Kohlengasantrieb, von denen die deutschen Gefangenen behaupteten, dies sei mittlerweile eine häufig anzutreffende Antriebsart im Reich, da der herkömmliche Sprit rationiert oder gar nicht mehr zu bekommen sei.
Zwischendurch erzählten ihm die Gefangenen Landser Witze, und auch Cyrus entdeckte langsam die komische Seite des deutschen Fatalismus, die dem britischem Galgenhumor verdächtig nahe kam. Dabei waren die Kürzesten die Besten: Lügen haben ein kurzes Bein betraf Göbbels einseitig kurzes Bein. Humpelstilzchens Märchenstunde seine Wochenschau. Er lernte die Bedeutung von Affe = Tornister, Churchill-Pimmel = Blutwurst, Dauerurlaubsschein = im Kampf sterben, Gefrierfleischorden = Auszeichnung für die Teilnahme am Russland-Feldzug 41/42, dazu passend: Karnickelorden =Mutterkreuz. Rückzugpastete = italienische Tomatenpaste, mit der die allgemeine Missachtung der militärischen Leistung der ehemaligen Achsenpartner gemeint war und noch hunderte von Ausdrücken und Wendungen. Er büffelte die Rangordnung der Wehrmacht, ihre Abzeichen und Uniformen.
An den Wochenenden sahen sie sich deutsche UFA-Filme an und anschließend gab es im Kasino immer einen kleinen Umtrunk, an dem auch Scrubbs teilnahm. Es wurden deutsche Sauflieder gegrölt und Scrubbs versuchte ihn betrunken zu machen. Cyrus aber blieb nüchtern. Er hatte sich in Frankreich angewöhnt, nur in sicheren Bereichen oder nach Abschluss von Einsätzen zu trinken. Sollte Scrubbs es doch versuchen.
Nach drei Wochen begann Cyrus endlich in Deutsch zu träumen. Er war bereit.
Am letzten Abend vor Einsatzbeginn traf sich Cyrus noch einmal mit Oberst Scrubbs in dessen Dienstzimmer. Außer diesem war noch ein jüngerer Offizier der Royal Airforce anwesend, der schweigend hinter dem Schreibtisch saß und gelegentlich an einem Brandy nippte.
Scrubbs ging den geplanten Einsatz Punkt für Punkt durch. Diesmal auf Englisch. Dem Offizier zuliebe.
„Ziel ist es, auf jede erdenkliche Art und Weise Kontakt mit diesem Fritz Hiller aufzunehmen. Eine persönliche Befragung wäre der Königsweg, um an die dringend benötigten Informationen über das deutsche Atombombenprogramm zu kommen. Die Flucht seiner Nichte impliziert, dass die Familie etwas über den Verbleib Fritz Hiller's weiß. Der Bruder von Fritz Hiller, Heinrich, lebt im südlichen Köln. Allerdings ist dieser Bruder ein linientreuer Nazi. Wie sein Vater. Es steht zu bezweifeln, dass der freiwillig mit Informationen rausrückt. Da müssen Sie sich was einfallen lassen. Luftbildaufnahmen der letzten Wochen haben uns zumindest gezeigt, dass das Haus, oder besser gesagt die Villa der Hillers noch steht. Ob die Familie noch dort lebt ist fragwürdig. Aber dort werden sie wohl Informationen bekommen, wohin sie vor dem Bombardement geflüchtet sind.“
Scrubbs war an einen großen Tisch in der Mitte des Raumes getreten, auf dem eine Reihe von Luftbildern lagen und war mit einer Aufnahme zurückgekommen, die er Cyrus gab.
„Wir haben mit Bombercommand abgesprochen, dass nach Möglichkeit diese Gegend nicht weiter bombadiert wird. Gehen Sie nach Köln und bringen Sie seinen Bruder, seine Schwägerin oder wer sonst noch etwas wissen könnte, zum Reden. Wie ist uns egal.“
„Gibt es außer der Tochter noch weitere Kinder?“, fragte Cyrus.
„Ja, da ist sind noch zwei Brüder. Aber wie alt die sind, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Seien Sie auf jeden Fall vorsichtig und klopfen Sie nicht einfach an. Es steht zu erwarten, dass man dort ein Empfangskommando für Sie vorbereitet hat“, sagte Scrubbs und trat an eine große Generalstabskarte, die fast die gesamte rechte Seite des Raumes einnahm.
„Aber wie kommen Sie dahin?“ Scrubbs griff nach einem Zeigestock und drehte sich zur Karte. „Darüber haben wir uns natürlich einige Gedanken gemacht. Und das Ergebnis ist nicht unbedingt … genial. Eher befriedigend. Aber das Beste was uns eingefallen ist.“ Er stoppte kurz und seufzte. Tatsächlich erschien es Franko, dass der Oberst nur widerwillig erzählte, was jetzt folgte.
„Wir werden Sie in einer kleinen Lichtung nahe dem Ort Jüngersdorf absetzen. Das ist etwa 50 km westlich von Köln. Ungefähr hier.“ Scrubbs trat nah an die Karte und versuchte einen winzigen Punkt darauf mit seinem dicken Zeigefinger zu treffen. „Etwas hügelig. Die Lichtung ist aus der Luft gut zu sehen. Wir haben die Gegend die letzten Wochen ziemlich häufig von Aufklärern fotografieren lassen. Wir können sie dort zielgenau absetzen, Cyrus. Wenn nicht, landen Sie im Gehölz. Wir werden Sie für diesen Fall etwas polstern. Auf der Lichtung steht eine kleine Burg. Unbewohnt. Wissen wir aber nicht genau. Schauen Sie sich mal um.“
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