Der Rittmeister blickte kurz seinen Begleiter an und wandte sich dann dem Adjudanten zu. „Es war nicht einfach, einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen. Die Flieger sind mit Besuch für den Führer ausgebucht. Der scheint heute ein strammes Programm zu haben.“
„Ja, morgen früh ist in der Wolfschanze ziemlicher Betrieb. Am Nachmittag kommt der Duce zu einem Dankesbesuch für seine Rettung. Die haben alles vorverlegt. Da können Sie ja glücklich sein, dass Sie nicht nach Rastenburg in die Wolfsschanze müssen, sondern zu unserem König Heinrich.“
Der Adjudant blickte sich bei den letzten zwei Wörtern grinsend um, spannte einen Bogen Papier in die Schreibmaschine und hämmerte die nächsten Minuten darauf herum.
Mit einem kurzen Rucken setzte sich der Zug in Bewegung. Der Adjudant blickte auf und schlug sich vor die Stirn. „Oh, Entschuldigung, meine Herren. Setzen Sie sich doch. Ich mache Ihre Anmeldung fertig. Muss sein. Dann melde ich Sie beim Reichsleiter.“
Tatsächlich brauchten sie nicht lange zu warten. Wenige Minuten nachdem der Adjudant verschwunden war, kehrte er zurück und hielt mit einer Hand die Abteiltür zum mittleren Wagen auf. Mit einem Kopfnicken forderte er den Rittmeister auf einzutreten. „Bitte. Der Reichsleiter!“
„Ah, mein lieber Manfred!“, rief Himmler, als der Rittmeister das Abteil betrat. „Schön, dass du es noch geschafft hast! Isst du mit mir zu Abend?“
„Gerne!“
Himmler wies dem Rittmeister einen Platz an einem großen, den halben Wagen in Anspruch nehmenden Tisch an, und setzte sich dann an dessen Ende neben ihn. Auf der blank polierten Fläche standen derbes Bauernbrot, Butter, Käse und Marmelade. Daneben eine Karaffe mit Rotwein. „Wie war die Reise?“, fragte Himmler, blickte mit seinen kleinen eng beieinander stehenden Augen sein Gegenüber an und griff blind in die Brotschale.
„Anstrengend. Wir mussten auf Jäger-Geleitschutz verzichten. Das ist immer etwas nervenaufreibend. Die Amerikaner machen uns am Himmel ganz schön die Hölle heiß.“
„Das ist die Schuld von Göring, diesem trägen Nichtsnutz“, erklärte Himmler, während er sich energisch die Butter aufs Brot strich. „Ich habe den Führer schon vor Jahren vor ihm gewarnt. Der Mann mag ein Kämpfer sein, aber er ist kein Organisator. Das ist der Grund warum die Luftwaffe so versagt.“
„Das denke ich auch!“, erwiderte der Rittmeister und schmierte sich ebenfalls ein Brot.
„Wie war es bei dem Treffen mit diesem ... wie heißt er noch ... Ein impertinenter Mensch ... „
„Dr. Mannerheim?“
„Ja. Was ist denn das nun für eine Geschichte mit dieser … wie soll ich sie nennen? … Groß-Bombe?“
Projekt Nemesis musste dem Reichsleiter SS wie ein zu kleiner Fisch durch sein breit gespanntes Nachrichtennetz geschlüpft und anschließend zu beachtlicher Größe gewachsen sein. Jedenfalls schien Himmler nicht gut informiert. Eine Erkenntnis, die den Rittmeister in Staunen versetzte.
„Dr. Mannerheim hat es wohl geschafft, den Führer persönlich vom Nutzen seines Projekts zu überzeugen. Und ich denke, Obergruppenführer Kammler hat ihm dabei geholfen.“
„Kammler! Pah! Immer schön geheimnisvoll, diese intrigante Sau. Spekuliert auf die Nachfolge Speers als Rüstungsminister. Das macht ihn ein wenig übermütig. Vor allem, weil diese V-1 Raketensache anscheinend ein kompletter Reinfall ist. Da braucht er Erfolge. Die Raketen sind imposante technische Entwicklungen, aber sie haben dummerweise nur geringen militärischen Nutzen. Das wird Kammler langsam klar. Aber erzähl' weiter.“
„Diese neue Waffe ist da nicht anders, fürchte ich!“
„Wieso? Wenn sie das militärische Potential besitzt, um den Vormarsch der Alliierten an drei Fronten zu stoppen, soll's mir recht sein.“ Himmler schob sich ein Stück Brot mit Käse in den Mund und lehnte sich im Sessel zurück.
Der Rittmeister schenkte sich etwas Wein ein und begann in groben Zügen von der Unterredung in Berlin zu erzählen. Himmler hörte konzentriert zu, nickte hin und wieder und kaute dabei gemächlich sein Käsebrot. Als der Rittmeister geendet hatte, tupfte sich Himmler mit einer Serviette den Mund ab und blickte starr ins Abteil. Für eine Minute war nur das Rattern des Zuges zu hören.
„Wie viele dieser neuen Bomben können gebaut werden?“, fragte Himmler.
Der Rittmeister hob seine Aktentasche vom Boden auf, förderte eine rote Mappe hervor und schob sie über die lackglatte Tischplatte zum Reichsleiter herüber. „Das ist das Problem. Wir können die Fundstätte dieses neuartigen Urans nicht mehr lange halten. Die Russen rücken immer näher. Das bedeutet, dass wir nicht genug fördern können. Insgesamt geht Mannerheim davon aus, etwa sechs bis sieben von diesen Bomben bauen zu können.“
„Sechs bis sieben? So viele!“, rief Himmler mit einem unüberhörbaren ironischen Unterton.
„Ja. Dummerweise. Dazu kommt noch das Problem, dass die Gerätschaften für die Gewinnung des Bombenstoffs nicht in hinreichendem Maße zur Verfügung stehen. Trotzdem konnten Kammler und Mannerheim den Führer hinsichtlich ihrer psychologischen Wirkung überzeugen.“
„Und? Was glaubst du Manfred? Ist diese neue Bombe so furchteinflößend wie es dieser Mannerheim behauptet?“
Der Rittmeister presste hörbar Luft aus seinen Lungen und blickte auf die rote Mappe, die immer noch unberührt vor Himmler lag. „Sicher. Das ist sie. Sie hat immerhin eine Sprengwirkung von 13 Kilotonnen TNT. Das reicht, um eine Stadt mittlerer Größe komplett einzuäschern. Nur ...“
Himmler blickte ihn ernst an. Die Hände hatte er vor seinem Gesicht gefaltet. „Nur?“, wiederholte er.
„Na ja. Welche Stadt wollen wir denn damit einäschern?“
„Ich wüsste einige: London, Moskau, Washington ...“
„Natürlich, ja. Abgesehen davon, dass London schon ziemlich am Ende ist. Dennoch gibt es da ein Problem.“
„Welches?“
„Wie bringen wir sie ins Ziel?“
„Mit unseren neuen Raketen?“
„Das geht leider nicht. Der Gefechtskopf von diesem Ding wäre viel zu groß. Den kriegen wir auch in die neue A 4 nicht hinein. Die Luftwaffe kommt ebenso wenig in Frage. Die Alliierten haben die absolute Luftüberlegenheit. Kein Bomber kommt bis nach Moskau, London oder geschweige Washington.“
„Dann werfen wir sie eben auf die vorrückenden alliierten Verbände ab.“
„Das ginge, sicher. Aber was wäre damit gewonnen? Die Truppen des Gegners rücken nicht kompress in einem großen Haufen vor, sondern in weit auseinander gezogenen Kontingenten. Wir schmeißen so ein Ding über einem ab und ein Regiment oder Bataillon geht hops. Wenn wir sie überhaupt treffen. Der Rest der Armee marschiert weiter. Die Alliierten werden sehr schnell merken, dass diese Bombe zwar gewaltig kracht, aber nur verhältnismäßig wenig in freiem Gelände anrichtet.“
„Genau das Richtige für Goebbels Wochenschau. Viel Trara und nichts dahinter. Mein Gott Manfred! Sind wir denn in allem zu spät? Solch' eine Bombe hätte uns vor einem Jahr geholfen, die Amerikaner davon abzuhalten, in Europa einzugreifen. Aber jetzt scheinen alle Erfindungen in der Militärtechnik zu spät zu kommen und im Nichts zu verpuffen.“
Himmler verfiel in dumpfes Schweigen. Schließlich fuhr er leise nuschelnd fort. „Manchmal denke ich, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen ist. Krieg an drei Fronten. Dauerbombardement der Rüstungsindustrie. Dabei ist das noch nicht mal das Problem. Wir produzieren mehr als je zuvor. Aber uns fehlen Soldaten. Wir ziehen mittlerweile bereits den neunundzwanziger Jahrgang für die Wehrmacht ein.“
Der Rittmeister runzelte die Stirn. Dass im Reich allerorten über eine Niederlage spekuliert wurde, war nichts Neues. Dass aber der engste Getreue des Führers ebenfalls in diesen Chor mit einstimmte, überraschte ihn dennoch. Himmler beugte sich nach vorn, stemmte seine Ellenbogen auf den Tisch, so dass seine Arme ein umgedrehtes V ergaben und schaute Manfred traurig an. „Wir müssen die Errungenschaften unserer nationalen Revolution bewahren. Das Reich irgendwie erhalten. Das ist es, worauf es jetzt ankommt. Der Führer wird nicht kapitulieren, aber vielleicht wird es noch zu einem Konflikt zwischen unseren Gegnern kommen. Diese Waffengemeinschaft zwischen Kommunisten und Demokraten ist doch unnatürlich. Wenn es soweit ist, können wir den Westalliierten unsere Hilfe gegen die Bolschewiken anbieten und mit all unseren neuen Waffen können wir die Vernichtung unseres Volkes abwenden. Zusammen mit den Alliierten ist das ein Klacks!“
Читать дальше