1 ...8 9 10 12 13 14 ...43 „Oh ja, Sir!“
„Und? Ideen?“
„Nein Sir!“
Major Chandler kratzte sich nachdenklich die Nase, dann den Nacken. Mit dem gelangweilten Ausdruck eines Bahnbeamten, der die Annahme eines hundert Pfund Geldscheines für den Kauf einer Fahrkarte von 50 Pennys ablehnt, zog er das Foto aus der Bildhalterung. „Kategorisieren Sie es als eine nicht identifizierbare SS-Einheit und lassen Sie es mal in den anderen Sektionen herum reichen. Vielleicht erinnert sich da einer, ob er so ein schwarzes Ding schon mal gesehen hat. Wenn nicht, dann zurück an uns!“
„Jawohl Sir.“
„Und ich frage mal nach, ob einer der oberen braunen Bösewichter zur Zeit auf Tournee ist.“
Francis Beaumont war nicht glücklich darüber, das SS- Lümmel-Flugzeug-Foto , wie er es mittlerweile nannte, abgeben zu müssen. Es hatte für Spannung gesorgt. In den nächsten Wochen wertete er weitere hunderte von Fotos aus, ohne wieder etwas vom SS- Lümmel-Foto zu hören. Seit der Invasion war er zusätzlich einer Abteilung zugewiesen worden, die für die Auswertung von Landungsfotos aus der Normandie zuständig war. Und das bedeutete viel Arbeit und Überstunden. Also vergaß er allmählich das SS- Lümmel-Foto . Wahrscheinlich wäre es auch so geblieben, wenn er sich nicht während eines Wochenend-Urlaubs in London mit seinem alten Schulfreund getroffen hätte.
Sein Name war Kenneth Underwood und er hatte, ebenso wie Francis, das Glück, nicht bei der kämpfenden Truppe gelandet zu sein. Er hatte einen Bürojob beim MI5, das im britischen Inland nach feindlichen Agenten fahndete.
Eigentlich war Kenneth für einen solchen Job der falsche Mann, denn er tratschte für sein Leben gern. Da er, wie Francis, eine militärische Sicherheitsstufe besaß, hielt sich Kenneth denn auch meistens nicht weiter zurück und erzählte immer mit humorvoller Hingabe von angeblichen deutschen Spionen, die von nervösen Mitbürgern enttarnt worden waren, während sie ihren dunklen Geschäften nachgingen. Die fünfte Kolonne , das war sein Lieblingsthema.
Francis war dennoch über jede Abwechslung glücklich und beschloss, sich mit Kenneth in einem kleinen Pub auf der Nordseite der Themse zu treffen. Wie er es erwartet hatte, plapperte sein Freund fröhlich drauf los, ohne dabei viel Zeit mit Luft holen zu verschwenden.
Für Kenneth war das ganze Gerede über deutsche Agenten Blödsinn. 99 Prozent aller Fälle, die man ihnen beim MI5 meldete, stellten sich als Einbildung heraus. Aber die Leute blieben wenigstens wachsam. Das war wohl der Grund für die Angstmache der Behörden. Nach etwa einer Stunde bereute es Francis bereits, sich mit Kenneth getroffen zu haben. Die Geschichten, die er ihm erzählte, wurden zunehmend und auf entnervende Art und Weise langweilig, da sie immer nur von verdächtigen Obern, Dienstboten, Schmetterlingssammlern usw. erzählten, die dummerweise einen Akzent oder Sprachfehler hatten und daher von den aufmerksamen Teilen der englischen Bevölkerung als deutsche Agenten angezeigt wurden. Wenn man sie nicht sofort in Eigeninitiative festnahm oder schlimmeres. Denn manche waren kurz davor gewesen, mit Mistgabeln erstochen oder von Schrotflinten erschossen zu werden. Das war zwar auf makabre Art lustig aber nicht in der Menge, die ihm Kenneth servierte. Nur eine Geschichte war anders und weckte Francis' Aufmerksamkeit.
Kenneth erzählte mit einem traurigen Unterton, aus dem alles Zynische verschwunden war, von einem Privatflugzeug, das um den 2. Juni herum von einer hübschen rothaarigen Frau geflogen und dummerweise abgeschossen worden war. Tote schöne Frauen waren Kenneth, dem Frauenheld, ein Graus.
„War sie eine Agentin?“, fragte Francis neugierig und schlürfe sein Bier, während er sich die tote Schöne in dem zerschossenen Flugzeugwrack vorzustellen versuchte.
„Wissen wir nicht! Sie hatte nichts dabei! Der MI5-Beamte vor Ort hielt sie für einen Flüchtling. Vielleicht eine Jüdin aus Holland. Die Nazis werden zunehmend aggressiver bei der Suche nach versteckten Juden.“ Er gähnte und blickte über Francis' Schultern hinweg zur Eingangstür, durch die gerade zwei aufregende Blondinen den Pub betraten.
Francis sah noch immer das Wrack mit dem leblosen Körper des Mädchens vor sich „Woher sie wohl kam? Ich meine, wo ist sie gestartet?“, bohrte er. Warum, wusste er nicht. Vielleicht, weil ihn rothaarige Frauen eindeutig mehr interessierten, als die beiden Blondinen, die Kenneth ins Visier genommen hatte.
Kenneth machte bereits einen langen Hals. „Vom Flugkurs musste sie entweder in den Niederlanden oder an der deutschen Nordseeküste gestartet sein. Der Tank war nur halb leer. Das würde wohl einen Radius dieser Größe zulassen. Vielleicht war sie eine Agentin, vielleicht auch eine, die die Schnauze von Adolf voll hatte. Wer weiß? Sie hatte sich auf jeden Fall nicht gut vorbereitet. Werden wir wohl erst nach dem Krieg erfahren, was? Oder nie. Jetzt liegt sie in einem anonymen Grab in ... in ... ach, was weiß ich. Bin gleich wieder da!“ Damit erhob er sich und ging zur Toilette.
In Francis' Vorstellung tanzte das Flugzeug durch die Wolken. In diesem schweren Sturm. Er erinnerte sich dunkel. Vor einem guten Monat. In Medmanham hatte er eine ganze Reihe Bäume entwurzelt. Der Sturm ... Mit einem Mal fiel ihm wieder sein SS- Lümmel-Foto ein. War es nicht unter den Bildern gewesen, die am 2. Juni von dem Aufklärer gemacht worden waren? Gleich nach dem Sturm. Die Insel lag durchaus in der Reichweite der kleinen Maschine. Vielleicht bestand zwischen dem schwarzen SS-Flugzeug und der Rothaarigen eine Verbindung. Kenneth kam vom Pinkeln zurück und quetschte sich wieder hinter den Tisch. Francis schaute ihn nachdenklich an. Sein Freund glotzte amüsiert zurück: „Was?!“ Kenneth glaubte einen halb irren Ausdruck im Gesicht seines Freundes zu erkennen. „Alles in Ordnung, Francis?“
„Ich denke nur nach. Ich hab' da vor ein paar Wochen ein Aufklärungsfoto auf den Tisch bekommen. Stammt vom 2. Juni. Dem Tag nach dem Sturm. Und darauf ist ein pechschwarzes Flugzeug zu sehen, Ju 52, das nur auf dem rechten Flügel als einziges eine SS-Rune trägt.“
„Na und?“, fragte Kenneth und streckte mit einem Gähnen seine Glieder.
„Na ja. Ein solches Flugzeug ist für uns in der Luftbildaufklärung neu. Dass die SS so etwas besitzt, ist neu. Scheint nur für besondere Fälle da zu sein. Es steht da auf dem Borkumer Marineflugplatz genau einen Tag, nachdem deine schöne Rothaarige abgeschossen wird. Eines ist sicher, dieses SS-Flugzeug ist auffällig. Und junge, rothaarige Frauen, die in Privatflugzeugen während eines Weltkrieges ins Land des Feindes fliegen, obwohl hinreichend bekannt ist, wie gut deren Flugsicherung funktioniert ... das ist ebenfalls sehr seltsam. Seltsam und sehr seltsam ergibt bei mir verdächtig. Stimmt's?“
„Zufall. Wahrscheinlich haben die von der SS mal wieder irgendwelche Leute auf der Insel wegen Unfähigkeit festgenommen oder neue Schweinereien ausbaldowert. Vielleicht macht Himmler ja auch Urlaub oder verteilt Orden.“
„Und was ist, wenn sie wegen der Rothaarigen da waren? Ich würde da mal hinterher forschen. Vielleicht habt ihr ja was übersehen.“
Kenneth glotzte ihn ungläubig an und zog schließlich seine Stirn in Falten. „Vielleicht sollte ich dir nicht mehr so viele Geschichten von deutschen Agenten erzählen“, murmelte er lapidar und nahm Sichtkontakt zu den beiden Blondinen auf, die sich an die Theke gestellt hatten.
Francis suchte achselzuckend ebenfalls die Toilette auf, und als er wieder zurückkam, hatte Kenneth die zwei jungen Frauen zu ihnen an den Tisch gelotst. Es wurde eine lange Nacht.
*
Anders als Francis gedacht hatte, ging Kenneth die Sache mit dem schwarzen SS-Sonderflug auf Borkum und dem notgelandeten Flugzeug mit der Rothaarigen nicht aus dem Kopf. Wenn zwei, nicht alltägliche Vorfälle zeitlich und räumlich zusammenfielen, konnte man zumindest mit etwas Fantasie eine Kausalität herstellen, die Aufmerksamkeit erregte. Vielleicht war es ja nur ein Zufall, aber man konnte ja nicht wissen. Außerdem hatte Kenneth es satt, seinen Hintern in eine Bratpfanne zu verwandeln. Er wollte mal wieder raus an die Luft und etwas Feldforschung, wie er es nannte, betreiben. Also bauschte er Francis' Information gehörig auf und bekam die Erlaubnis, nach Norwich zu fahren, um sich vor Ort mal etwas genauer umzuschauen.
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