1 ...7 8 9 11 12 13 ...43 „Das zu wissen, wäre wirklich ... nicht schlecht gewesen, Herr Mannerheim!“
„Dr. Mannerheim, bitte. Wie gesagt. Verzeihen Sie uns, mein Freund. Aber jetzt sind Sie ja da und werden schon dafür sorgen, dass alles wieder ins Lot kommt! Nicht wahr?“
„Werde mein Bestes tun“, raunte Skorni, und dachte an seinen Urlaub, der soeben endgültig vorbei war.
„Nun zu den Anstrengungen, die wir bis jetzt unternommen haben, um Projekt Nemesis bis zum Winter in die Tat umzusetzen.“
Mannerheim verfiel wieder in seinen geschäftsmäßig bürokratischen Ton. „Insgesamt besteht das Projekt aus drei Stufen. Stufe eins: Abbau des S-Urans im besagten Stollen, den wir Lager „Höhle“ nennen. Dabei werden Häftlinge eingesetzt, deren Wachmannschaften Urlaubssperre haben. Wenn die Front der Bolschewiken zu nahe kommt, was zu erwarten steht, wird das Lager mitsamt der Häftlinge eliminiert. Was mit den Wachmannschaften passiert, liegt ab sofort bei Ihnen. Sorgen Sie nur dafür, dass nichts nach außen dringt. Stufe zwei: Fertigstellung Nemesis II für die Sprengstoffgewinnung. Professor Hiller wird dort beschäftigt sein und die Arbeiten überwachen. Wenn die Anlage reibungslos läuft, ist er sofort der Sonderbehandlung zuzuführen. Stufe drei: Bis zum Anfang des neuen Jahres: Lieferung des fertigen Sprengstoffes nach Thüringen. Dort wird anhand von Tests die Wirksamkeit der Waffe demonstriert. Der Führer wird anwesend sein. Danach Übergabe an die Waffen-SS, die sich um die strategische Anwendung kümmern wird. Nach dem ersten militärischen Einsatz ist dann wohl keine strikte Geheimhaltung mehr nötig.“
Mit Schwung rollte Mannerheim die Billardkugel über den grünen Filz. Ein vielfaches Klackern der angestoßenen Kugeln war die Folge. Sie liefen in verschiedene Richtungen. Wie Skornis Gedanken.
„Sie, mein Lieber, sind ab sofort für die Sicherung des Projektes verantwortlich. Sie bekommen alle Unterstützung, die Sie brauchen. Wenn Probleme auftauchen, melden Sie sich bei Kammler oder Schaffell. Dieses Projekt hat Vorrang. Absoluten Vorrang. Alles, was seinen Fortschritt gefährdet, wird beseitigt. Machen Sie alles dicht, Skorni. Und wenn der Krieg vorbei ist, Europa deutsch und Asien unser neuer Lebensraum, werden wir hier zusammen eine ruhige Kugel schieben, nicht wahr!“
Mannerheim lachte leise über seinen Witz.
Für Francis Beaumont stellte die Stereoskopie, die vor ihm auf dem Tisch lag, ein Ärgernis dar. Die Ränder des Doppelbildes waren abgegriffen und wellig. Immer wieder hatte er sie sich angeschaut und darüber gegrübelt. Sie hatte in einem Schwung Luftaufklärungsfotos gesteckt, die ein Flugzeug von der ostfriesischen Insel Borkum gemacht hatte. An sich nichts besonderes. Routinemäßig war der Aufklärer in einer Höhe von tausend Fuß über die schweren Flugabwehrstellungen hinweg geflogen und hatte Dünen, Häuser, Bunker, Sandsäcke, verdutzte hinaufschauende Passanten und sogar Badegäste auf der Strandpromenade fotografiert. Ein echtes Wagnis für den Piloten, denn Borkum war gespickt mit Luftabwehrgeschützen aller Kaliber. Ein Überflug musste überraschend geschehen.
Die Auswertung war im Gegensatz zur Beschaffung der fotografischen Information nur eine triste Wiederholung von Bildern meist geringen Aussagewertes. Francis hatte die Insel schon zu allen Jahreszeiten gesehen, kannte jedes Haus, jede Düne und jeden einzelnen Bombenkrater. Manchmal glaubte er sogar einzelne Menschen auf der Straße wiederzuerkennen und grüßte sie amüsiert, während er sie durch das Stereoskop beobachtete.
Konzentriert suchte er dennoch in den Bildern nach etwas Neuem, Unerwartetem. Er verglich alte mit neuen Aufnahmen, kontrollierte Negative, wenn er Verunreinigungen entdeckt zu haben glaubte, zog Kollegen hinzu, wenn ein Objekt nicht eindeutig identifiziert werden konnte. Seit einem Jahr war er für die deutschen Nordseeinseln und das nahe Festland in der Luftbildauswertung in Medmenham beschäftigt, aber außer dem Auf- und Abbau diverser Antennen, kleinerer baulicher Veränderungen und einiger neuer Anlagen für Radaraufklärung, die er zuweilen auf den Fotografien beobachtet hatte, war ihm nie etwas wirklich Kniffliges untergekommen. Bis zu diesem Tag.
Dabei war das, was er auf diesem Foto sah, eigentlich kein wirkliches Rätsel. Was er sah, war eindeutig. Es brauchte keine Kontrolle des Negatives, keine Meinung von anderen Auswertern hinsichtlich des Objekts, das er dort am oberen Rand des Fotos bemerkt hatte. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob er dem Colonel Bericht erstatten sollte oder nicht.
Wieder betrachtete er das Foto. Auf der rechten Seite erkannte er die graublau gestrichenen Gebäude des Marineflugplatzes, die zu einem unregelmäßigen U geformt waren. In der Mitte des U selbst war ein großer Funkmast zu erkennen. Zweifellos der Grund, warum der Pilot des Aufklärungsflugzeuges auf den Auslöser gedrückt hatte. In näherer Umgebung lagen unregelmäßig verteilt zerstörte Baracken und weitere Hinterlassenschaften diverser alliierter Luftangriffe.
Gleich neben den Gebäuden begann die Rollbahn, auf der aber seit einem Jahr kaum noch Flugverkehr herrschte. Früher waren von hier Seeaufklärer gestartet, aber die Luftüberlegenheit der Alliierten machte es den Deutschen in diesen Tagen unmöglich, über der Nordsee Flugzeuge einzusetzen. Francis erkannte dennoch einen intakten Hangar und davor ein paar mit Planen abgedeckte Flugzeuge. Auf der anderen Seite des Platzes rosteten große viermotorige Fernaufklärer vor sich hin. Einer hatte einen Volltreffer erhalten und war wohl nur noch als Wrack zu bezeichnen. Die Motoren hatten die Deutschen dennoch mit grauen Planen abgedeckt. Gleich dahinter ein kompaktes zweistöckiges ebenfalls graublau gestrichenes Steingebäude mit einer weiteren langen Antenne auf dem Dach. Die Horstkommandantur, soviel Francis wusste.
Am äußersten Rand des Bildes schließlich, und das war das Problem, eine schwarz gestrichene Ju 52. An sich ebenfalls nichts Außergewöhnliches, wenn sie nicht diese SS-Rune auf der rechten Seite der Tragfläche getragen hätte. Auf der linken war nichts. Auch kein Balkenkreuz. Dass die SS eigene, schwarz lackierte Flugzeuge besaß, war Francis neu. Vielleicht eine Prominentenmaschine. Himmler vielleicht? Machte der auf Borkum Urlaub?
Sicher ist sicher, dachte Francis ermattet und rief den wachhabenden Offizier an seinen Tisch. Vielleicht konnte der ihm aus seinem Dilemma heraushelfen.
„Sehen Sie sich das mal an, Major Chandler!“
Der Offizier kam zu ihm herüber geschlendert, beugte sich mit auf dem Rücken verschränkten Händen über den Tisch und äugte durch das Stereoskop. Dabei bewegte er seinen Kopf hin und her, um den leicht dreidimensionalen Effekt der Stereografie besser ausnutzen zu können.
„Was soll denn hier zu sehen sein, Mr. Beaumont?“ Der Major war im Zivilberuf Dozent für Englisch am Hartmore-College und hasste militärisches Gehabe.
„Links oben in der Ecke, Sir! Das schwarze Flugzeug.“
Major Chandler schwieg einen Moment und schnalzte plötzlich laut mit seiner Zunge. Francis zuckte erschrocken zusammen.
„Hm, ein pechschwarzes Flugzeug der SS. Schau an, schau an ...“, murmelte der Major und setzte nach einer Weile mit der vollen Stimme eines Bühnendarstellers hinzu, „ Den ich gesehen, kann ein Teufel sein; der Teufel hat Gewalt, sich zu verkleiden. Hamlet, Szene II, 2. Aufzug, Mr. Beaumont. Und das, was Sie da sehen, ist wohl ein Dienstflugzeug für irgendeinen dieser verächtlichen SS-Teufel. Offensichtlich lümmeln da bei der Kommandantur auf Borkum noch ein paar schäbige Begleiter in ihren schwarzen Uniformen herum. Schauen geradewegs in unsere Kamera. Je weiter der Krieg fortschreitet und das Ende dieser Brüder rückt, desto größenwahnsinniger werden sie. Was für ein degoutanter Auftritt.“ Der Major schüttelte angewidert den Kopf. „Weitaus interessanter wäre es zu erfahren, wer da warum wem einen kleinen Besuch abstattet. Nicht wahr, Mr Beaumont?“
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