Sie ist gerade mal zwei Tage mit den dreien zusammen und schon fällt es ihr schwer, sie zu verlassen, weil sie sie so herzlich bei sich aufgenommen haben. Vor allem der kleine vorlaute Zippi wird ihr fehlen.
Nachdem sie etwa eine weitere Stunde im Wald unterwegs waren, lichtet sich das Geäst langsam. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem Luica und Harold mit Zippi und Nea die Plätze tauschen. Nea bräuchte eigentlich keine Pause, denn durch das langsame Tempo fühlt sie sich kein bisschen schlapp. Sie ist längere Fußmärsche gewöhnt. Trotzdem freut sie sich, auf den Kutschbock steigen zu können.
Es gehört nicht viel dazu, die Kühe auf der ebenen Straße zu lenken, denn sie kennen den Weg genauso gut wie ihre Besitzer. Der Wagen holpert auf und ab, doch trotzdem sieht man so viel mehr von der Landschaft um einen herum als zu Fuß. Mittlerweile kommt die Sonne auch wieder durch die Wolken und schmilzt die letzten Reste Schnee davon. Die Tannenbäume werden durch kahle Laubbäume ersetzt und der weiche Moosboden durch grüne Wiesen. Der Wald wird immer lichter, je weiter sie gehen, und schließlich sieht man nur noch hier und dort einen vereinzelten Baum.
Sie befinden sich nun zwischen ehemaligen Tierkoppeln. Das Holz der Zaunpfähle ist ganz verwittert. Viele sind umgestürzt und unter dem hohen Gras begraben. Die Sonne, die gegen die Wolken gesiegt hat, veredelt die Welt mit ihrem rotgoldenen Glanz. Als die vier eine Lichtung erreichen, bleiben die Kühe stehen. Sie warten auf einen Befehl, der ihnen sagt, wohin sie gehen sollen. Doch Harold ist der Meinung, dass sie für heute genug gereist seien und es jetzt Zeit sei, das Lager aufzuschlagen. Während Zippi Harold hilft, die Zelte aufzubauen, und sich Luica um das Feuer kümmert, bietet Nea an, ein paar Hasen jagen zu gehen. Gerne nehmen die anderen ihr Angebot an und so begibt sie sich, bewaffnet mit ihrem Messer, auf die Jagd. Als sie so weit gelaufen ist, dass sie die anderen durch das Gras nicht mehr sehen kann, sondern nur noch ab und zu leise ihre Stimmen hört, schließt sie ihre Augen und versucht, ein Rascheln auszumachen.
Miros Hände lagen ruhig auf Neas Hüfte, während sein Atem sie in ihrem Nacken kitzelte.
„Schließ die Augen und entspann dich“, flüsterte er ihr zu, wobei Nea die Luft vor Spannung anhielt. Sie schloss ihre Augen und versuchte, nicht an Miros Hände auf ihrem Körper zu denken. Früher hatten sie seine Berührungen nie gestört. Doch seit einiger Zeit machte sie diese wahnsinnig. Wenn seine Haut nur leicht die ihre streifte, konnte sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Manchmal machte sie das so wütend, dass sie ihn grundlos beleidigte, nur um es im nächsten Moment bereits zu bereuen.
„Hörst du das Rascheln?“
Nein, sie hörte nichts außer dem wundervollen Tenor seiner zärtlichen Stimme. Wie Samt strich sein Atem an ihrem Ohr vorbei. ‚Konzentrier dich’, ermahnte sie sich und lockerte ihre Schultern.
Sie hörte, wie der Regen auf die Blätter fiel, und dann in weiter Ferne das leise Rascheln eines Tieres.
„Hörst du es?“
Nea nickte.
Sie muss nicht lange warten, da hört sie leises Getrappel ganz in ihrer Nähe. So leise wie möglich nähert sie sich dem Geräusch. Sie kommt ihm immer näher, doch dann sieht sie nur noch hellbraunes Fell vor sich weghuschen. Sie versucht dem Tier zu folgen, doch das einzige, was sie sieht, sind fliehende Hinterläufe. Immer wieder verfehlt sie das Tier, wenn sie mit ihrem Messer nach ihm wirft. An dieser Stelle könnte sie ihr Netz gebrauchen, doch das ist in ihrem Rucksack, den Harold bei ihren Sachen verstaut hat. Und so muss sie sich irgendwann geschlagen geben und mit leeren Händen zu den anderen zurückkehren. Sie machen ihr keine Vorwürfe, und Luica erhitzt ein paar alte Dosen Ravioli über dem Feuer, deren Haltbarkeitsdatum wahrscheinlich schon lange abgelaufen ist. Doch es ist Nea wichtig, ihnen ihre Dankbarkeit zu zeigen. Deshalb fragt sie Harold nach ihrem Rucksack und stellt in der Nähe des Lagers eine Falle mit dem Netz auf. Mit viel Glück wird sich das Tier, welches sie jetzt nicht fangen konnte, in der Nacht darin verfangen. Nea erinnert sich an den Hund, der ihr beim letzten Mal ins Netz ging. Sein Fell hatte dieselbe Farbe wie der Hase, dessen Hinterläufe sie immer nur zu Gesicht bekommen hatte.
Die Ravioli sind nichts Besonderes, trotzdem isst Nea sie andächtig, denn es ist ihre letzte Mahlzeit zusammen mit den dreien, danach wird sie sich wieder alleine durchschlagen müssen. Sie genießt die Wärme des Feuers und lauscht dem schwachen Knistern. Als sie alle aufgegessen haben, holt Harold wieder seine Mundharmonika hervor und stimmt eine lustige Melodie an, die Luica und Zippi zu kennen scheinen. Beide strahlen über das ganze Gesicht und fangen lauthals an mitzusingen.
In dem Lied geht es um einen Mann, der sich von allen übers Ohr hauen lässt. Sein Haus tauscht er gegen eine Kuh, seine Kuh gegen ein Schwein, sein Schwein gegen einen Hahn und seinen Hahn schließlich gegen einen Laib Brot, doch trotzdem ist er stets glücklich und vergnügt. Noch vergnügter erscheinen Nea jedoch ihre drei Gastgeber. Harold wippt mit seinen Füßen im Takt, Luica singt aus voller Kehle und Zippi hüpft vergnügt um das Feuer herum. Es folgen weitere lustige Lieder, und auch wenn Nea keines kennt und mitsingen könnte, amüsiert sie sich so gut wie seit zwei Jahren nicht mehr. Schließlich steht Luica auf und kommt mit einer braunen Flasche und drei Gläsern zurück. Sie reicht jedem, außer Zippi, eins und schüttet das dunkelrote Getränke hinein. Wenn sich Nea nicht täuscht, ist es Wein. Ihre Eltern saßen manchmal abends, wenn sie dachten, dass sie schon schlafen würde, aneinander geschmiegt auf dem weichen Sofa, hatten Kerzen angezündet und blickten durch die Fenster in die Nacht hinaus. In ihren Händen hielten sie ein Glas Wein. Wenn Nea zu ihnen kam, nahmen sie ihre Tochter immer in die Mitte und gaben ihr anstatt Wein Traubensaft zu trinken. Einmal durfte sie jedoch den Wein probieren, doch er schmeckte so sauer, dass sie nie mehr danach fragte und stattdessen voll und ganz zufrieden mit ihrem süßen Traubensaft war.
In Neas Kopf drehte es sich, als wäre sie gerade von einer Achterbahn gestiegen. Das Glas Wein konnte sie kaum noch gerade halten. Dafür war ihr jetzt herrlich warm. So warm, dass ihre Jacke in der Ecke neben Miros Pullover lag. Er selbst saß nur noch in seinem weißen Unterhemd da, das nun gesprenkelt von dunkelroten Flecken war. Auf seinem rechten Oberarm war das kleine schwarze ‚N’ zu erkennen, das er sich vor wenigen Monaten selbst gestochen hatte. Nea hatte sich geweigert, sich von ihm ein ‚M’ tätowieren zu lassen. Daraufhin war er so beleidigt gewesen, dass er sich drei Tage lang nicht mehr bei ihr hatte blicken lassen.
Nea hatte ihre Entscheidung nie bereut. Sie weiß, dass Miro immer an ihrer Seite sein wird, also braucht sie auch keine Tätowierung mit seinem Anfangsbuchstaben.
Die beiden Weinflaschen fanden sie in einer Kiste, die sie einem Händler gestohlen hatten. Anfangs tranken sie noch bedächtig, doch mittlerweile leerte sich ein Glas nach dem anderen, sodass die erste Flasche schon ausgetrunken über den Boden rollte und ihnen als Drehscheibe für ‚Wahrheit oder Pflicht’ diente.
Zu Neas Bedauern spielten sie das Spiel nicht alleine, sondern mit drei weiteren Jugendlichen. Zwei Jungen und ein Mädchen. Sie hasste es, Miro mit anderen teilen zu müssen. Aber jetzt auch noch zu sehen, wie sich das andere Mädchen an seinen Hals schmiegte, brachte sie zum Kochen. Wie eine Klette klebte sie an ihm und ließ ihre langen, blonden Haare über seine nackten Schultern fallen. Ständig blickte sie zu ihr und flüsterte Miro dann etwas kichernd ins Ohr. Nea hasste Miro dafür, dass er jedes Mal zu lachen begann.
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