Erneut schlichen sich Zweifel in seine Gedanken. War das hier vielleicht doch nur ein Traum? Aber dann straffte er sich und sah auf seine verbrannten Hände. Besonders die Linke erinnerte ihn äußerst unangenehm daran, dass der Schmerz hier real war. Das war vorerst alles, was zählte. Er würde weitermachen und schauen, dass er hier wegkam.
Doch wohin sollte er jetzt gehen? In der dunklen Höhle war kein Ausgang wahrzunehmen. Lediglich in Richtung des schlafenden Drachen hellte sich der Raum auf, wahrscheinlich war in dieser Richtung eine Öffnung zu finden.
Klavan dachte nach. Er erschauderte zwar bei dem Gedanken, sich dem Untier zu nähern. Jedoch schien es keine andere Möglichkeit zu geben, und der Drache schlief ja fest und ahnte nichts. Also machte Klavan vorsichtig einen Probeschritt nach vorne. Trotz aller Vorsicht entstand ein leises Knirschen, das von seinen Füßen herrührte. Das Metallzeugs am Boden, dachte er. Eine natürliche Einbrechersicherung. Ängstlich hielt er an und schaute auf den Drachen. Dieser schnarchte aber friedlich weiter und schien nichts bemerkt zu haben.
Nach einigen weiteren Versuchen bemerkte Klavan schließlich, dass er den beim Gehen entstehenden Geräuschpegel zwar mit etwas Geschick verringern konnte – ein Minimum an Knirschen musste er jedoch bei der Fortbewegung in dieser Schatzhöhle wohl in Kauf nehmen.
Klavan entschied sich, nicht weiter zu warten. Möglichst leise bewegte er sich in Richtung des vermuteten Ausgangs. Dabei wurden seine Bewegungen umso langsamer und vorsichtiger, je näher er dem Drachen kam. Immer mehr wurde ihm klar, dass dieser seinen Schlafplatz gut gewählt hatte. Von dieser Stelle aus war einerseits der gesamte hintere Teil der Höhle – aus dem Klavan jetzt kam – gut zu überblicken. Andererseits musste man, um in den vorderen und helleren Abschnitt der Höhle zu gelangen, unmittelbar an ihm vorbei. Und Schleichen im eigentlichen Sinne war aufgrund der vielen Gold- und Silberstücke auf dem Boden ja nicht möglich. Aber was blieb ihm übrig? Er würde es trotzdem versuchen. Ganz langsam und bedächtig setzte Klavan weiter Fuß vor Fuß.
Schließlich war er auf etwa fünf Meter an den Drachen herangekommen und konnte gut die fremdartig penetrante Ausdünstung des Untiers riechen, welches auf dem kleinen aus Münzen und seltsamen Gegenständen bestehenden Hügel vor ihm lag. Vorsichtig bewegte Klavan sich weiter vorwärts und verursachte dabei erneut jenes leise, unvermeidliche Knirschen, welches ihn schon die ganze Zeit begleitet hatte. Diesmal jedoch hörte das beruhigende und regelmäßige Schnarchen des Drachen auf. Klavan erstarrte und hielt vor Schreck die Luft an. An der Schnauze des Drachen spielte ein kleines Flämmlein, das kurze Zeit später wieder erlosch. Die riesigen reptilienhaften Augen blieben jedoch zu Klavans großer Erleichterung geschlossen.
Trotz der Gefährlichkeit der Situation bemerkte Klavan plötzlich ein komisches Jucken unter seinem rechten Fuß. Etwas war da anders als sonst. Vorsichtig hob er den Fuß an. Sein Blick fiel auf einen dunklen Gegenstand, der sich deutlich von den herumliegenden glitzernden Münzen abhob. Ein Ring. Ein wirklich schöner Ring, einer, den man auch als Mann gut tragen konnte. Nicht aus Silber oder Gold, sondern aus einem dunklen, fast schwarzen Metall. Ohne Diamanten oder andere Steine daran. Ein schlichter, breiter, dunkler Ring.
Seltsam, Ringe gefielen ihm normalerweise nicht besonders, aber diesen hier fand Klavan auf Anhieb schön. Und warum eigentlich nicht? Dieser gemeine Drache hatte ihn hierher entführt und ihn an mehreren Körperteilen probeweise geröstet. Falls er entfliehen konnte, war es nur recht und billig, wenn er sich vorher ein wenig entschädigte. Kurz entschlossen hob Klavan den Ring auf und zog ihn sich über den Finger. Der Ring schien auch darauf zu passen, wie eigens dafür gefertigt. Ein kurzer Impuls von Schadenfreude durchfuhr ihn. Sicher würde er später auch noch ein paar Goldstücke mitnehmen, schließlich musste er ja – zumindest vorübergehend – von irgendetwas leben.
Doch erstmal musste er an diesem Drachen vorbei.
Hmm. Genau genommen war er bekloppt gewesen, zu denken, er könne an dem Reptil vorbeischleichen. Einer seiner typischen, bescheuerten Pläne. Wie so häufig zum Scheitern verurteilt. Eben war das Untier fast schon wach geworden. Und wenn er noch näher an das Vieh herankam, dann würden seine Schritte für den Drachen noch lauter werden, und dann wäre es mit der tollen Flucht bestimmt zu Ende. Erneut musste er die Einfachheit und Genialität bewundern, mit der das Untier seinen Schlaf abgesichert hatte. Wie sollte er so ins Freie finden? Er hatte lediglich die kleine Chance, dass sich an den hinteren Wänden der Höhle ein weiterer, von ihm bislang nicht entdeckter Ausgang befand.
Also zunächst wieder weg vom Drachen. Vielleicht ließ sich ja im hinteren Teil der Höhle ein Versteck finden. Zur Not könnte er sich ja auch bis zum Kopf in Goldmünzen verbuddeln. Dann sollte ihn erstmal jemand finden!
Mit äußerster Vorsicht bewegte sich Klavan in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Nach geraumer Zeit hatte er wieder einen Abstand von ungefähr 15 Metern zum Drachen, ohne dass dieser in der Regelmäßigkeit seines Schnarchens nachgelassen hätte. Jetzt musste er sich langsam entscheiden, auf welche der Höhlenwände er weiter zugehen wollte. Sollte er jetzt die linke Wand nehmen, welche etwas näher lag? Oder sollte er sich der zur Rechten liegenden Wand zuwenden, wo einige größere Gegenstände zu liegen schienen. Dort gab es vielleicht bessere Verstecke ...
«Möge dein Innerer Atem tief sein« , sagte eine helle, etwas kratzige Stimme. Allerdings eine Spur zu laut, gerade für die aktuelle Situation. Klavan erstarrte vor Angst. « Ich werde dir helfen! Bleib erstmal ruhig stehen und hör mir zu!» , fuhr die Stimme fort. « Sonst wird nachher noch der Drache wieder wach. Du hast heute dein Glück wahrlich schon genug strapaziert.»
Klavan war zwar völlig verwirrt, aber er hatte sich genug unter Kontrolle, um keinen Laut von sich zu geben. Vorsichtig sah er sich um. Außer dem schnarchenden Drachen war nirgendwo jemand zu sehen.
«Wo bist du?», flüsterte er leise.
«Du brauchst nicht zu flüstern, denn ich kann schließlich deine Gedanken lesen. Ich beherrsche nämlich die hohe Kunst der Telepathie» , entgegnete die Stimme stolz. « So kriege ich stets alles mit.»
«Wo bist du denn dann?» , konzentrierte Klavan mit aller Kraft seine Gedanken.
«Nicht so laut!» , entgegnete die Stimme beleidigt. « Ich kann dich auch gut hören, wenn du ganz normal denkst.»
«Gut» , dachte Klavan jetzt, wobei er sich bemühte, wirklich ganz normal zu denken. « Würdest du mir dann freundlicherweise sagen, mit wem ich rede – äh, denke?»
«Selbstverständlich» , entgegnete die Stimme mit einem Ton, wie wenn ein Lehrer einem Schüler etwas erklärt. « Ich befinde mich an deinem Finger. Sonst könnten wir schließlich auch nicht in Gedanken reden.»
Klavan blickte auf seine Hände. Das Einzige, was er außer seinen Verbrennungen dort Besonderes sah, war der Ring, den er vorhin in einer Laune aufgehoben hatte.
Die Stimme interpretierte sein Zögern falsch.
«Also noch mal für Langsammerker. Natürlich bin ich nicht auf die banalen Laute angewiesen, die ihr Menschen benutzt, um miteinander zu reden» , erklärte sie gelangweilt. « Ich beherrsche die hohe Kunst der Telepathie. Ich habe aber damit selbstverständlich gewartet, bis du etwas weiter von dem Drachen weggewesen bist, um deine Aufmerksamkeit dort nicht zu stören.»
Wenn Klavan der Stimme in seinem Kopf also Glauben schenkte, kam diese offensichtlich von dem Ring, den er sich gerade angeeignet hatte. Allerdings war das kaum zu glauben. Nun, er würde sich vorerst auf dieses Spielchen einlassen, auch wenn der Ring ihm etwas arrogant schien.
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