Und es gab keinen Ausgleich, es gab nichts, wo er richtig gut war. Er war stets ein durchschnittlicher Schüler gewesen, und auch im Sport hatte er niemals besondere Leistungen erbringen können. Überall mittelmäßig, nirgendwo besonders gut, und zu Hause immer Stress. Kein Wunder, dass die Versuchung zur Zigarette bei ihm besonders hoch war. Es war anfangs wie ein Geschenk gewesen, man rauchte, und eine Stresssituation wurde weniger schlimm, man konnte sich etwas entspannen. Er hatte immer gewusst, dass es ungesund war, doch was zählte das damals schon.
Außerdem war er überzeugt: Nicht nur das Rauchen war für den Krebs verantwortlich. Wie hieß es so schön: Körper und Seele sind eine Einheit.
Also kein Wunder, dass er Krebs hatte.
Sie hatte ihn verlassen. Seine große Liebe. Oder sollte er besser sagen: seine einzige große Liebe. Denn natürlich hatte er auch Frauen vor ihr gekannt. Doch keine war so wie sie. So spontan, so intuitiv, immer fröhlich und so intelligent. Ein Wunder, dass sie sich überhaupt in ihn verliebt hatte. Und jetzt hatte sie ihn verlassen.
Er hatte gemerkt, wie sie einander immer weniger zu sagen gehabt hatten, wie ihre Fröhlichkeit abnahm, wenn sie in seiner Nähe war. Wie es immer weniger wurde, wie ihre Beziehung zugrunde ging. Und hatte nichts dagegen getan, nichts dagegen tun können. Und dann kamen die Vorwürfe, immer diese Vorwürfe. Was konnte er schon dafür, dass er arbeitslos war. Hatte er sich nicht redlich bemüht? Aber einen Job für einen jungen, gerade erst fertigen Windanlagentechniker zu finden, war in Zeiten einer Wirtschaftskrise nicht so einfach. Er hatte unzählige Bewerbungen geschrieben, aber alle umsonst, er war noch nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden. Und in einem anderen Beruf zu arbeiten, konnte er sich schlicht nicht vorstellen. Dafür mochte er seinen Job zu sehr.
Als jetzt auch noch die Sache mit dem Lungenkrebs kam, war sie gegangen. Hatte gestern einfach einen Lieferwagen und mehrere Packer bestellt, hatte ihre Sachen aus der Wohnung räumen lassen und war ohne Abschied verschwunden.
Auf dem Tisch hatte ein Zettel gelegen: «Ich kann mit deiner Krankheit leben, aber nicht mit deiner Depression», hatte darauf gestanden.
Er blickte nach unten. Die wirklich wichtige Frage war, ob er so leben konnte. Ob er so leben wollte. Der Abgrund zu seinen Füßen war ein Ausweg. Ein verlockend leichter Ausweg. Ein kleiner Schritt nur, und er würde fallen, würde mit dem Wind fallen, den er stets gemocht hatte, und das Ende würde schnell sein. Er glaubte nicht, dass etwas danach kam, aber das war egal. Er hatte das Jetzt gründlich über.
Er schloss die Augen, um den Wind besser auf seiner Haut zu spüren.
Seltsam, er war doch noch gar nicht nach vorne geschritten, und hatte trotzdem schon das Gefühl zu fallen, immer weiter, endlos zu fallen ...
Nein, er war nicht tot, er war wirklich nicht tot! Es war eher die Unwirklichkeit des Träumens, dieser abrupte Wechsel der Realität, den er zu erkennen glaubte. Und Träumen, in seiner jetzigen Lage, das empfand er wirklich als absurd. Er hatte nur ganz selten Tagträume. Aber wie immer, er vermochte sich seine Träume nicht auszusuchen, und angesichts seiner jetzigen Lebenssituation konnte es auch nur ein mieser Traum werden.
Er neigte den Kopf nach unten und öffnete seine Augen. Na klar! Die eisige Kälte, die seinen gesamten Körper hochkroch, rührte von dem Metallboden her, auf dem er lag. Vielleicht sollte man besser sagen, auf dem er nackt lag. Es fing also schon an, ungemütlich zu werden. Und unrealistisch. Wo waren schließlich seine Klamotten abgeblieben?
Er richtete sich auf und lächelte grimmig. Wenn er im Traum starb, dann war das zwar stets unangenehm, doch wachte er anschließend immer sofort auf. Viele seiner Alpträume hatten auf diese Art geendet. Hatten stets schnell auf diese Art geendet, seit er den Zusammenhang erkannt hatte. Also, das war einfach. Es galt nur, die Umgebung gut zu untersuchen, um eine passende Möglichkeit zu entdecken.
Er stand in einer gusseisernen Konstruktion, die grob an einen Gitterkäfig erinnerte. Vorne war eine etwa mannsgroße Gittertür eingelassen. In dem ihn umgebenden Halbdunkel konnte er ansonsten kaum etwas erkennen. Die Luft roch schwül und modrig. Gelegentlich drangen Geräusche durch das Dunkel. Ein leises, metallisches Reiben klang zeitweilig auf, nur um abrupt wieder abzubrechen. Der verzerrte Widerhall ließ ihm kalte Schauer über den Rücken laufen.
Plötzlich sah er zwei rötlich glühende Punkte in einiger Entfernung leuchten, die langsam näher kamen. Ein riesiger Schatten zeichnete sich ab, der zu diesen beiden Punkten zu gehören schien. Das knirschende Geräusch wurde lauter. Es musste von diesem Schatten ausgehen. Aus den beiden glühenden Punkten wurden zwei große Augen, die Klavan zu mustern schienen.
«Perfekt!», tönte eine leise Stimme aus dem Hintergrund.
Von dem Schatten kam daraufhin ein fauchendes Geräusch. Kleinere Flammen zuckten dort auf und erhellten den Raum mit etwas Licht. Es schien sich um eine riesige Halle zu handeln. Das Licht der Flammen spiegelte sich am Boden sowie an den Wänden in vielen Facetten und fiel auf ein riesiges schwarzes Untier. An beiden Seiten hingen breite, augenscheinlich zusammengelegte Flügel herab. Alle vier Beine waren mit langen, scharfen Krallen besetzt. Die Flammen selbst jedoch schienen aus dem riesigen Maul des Wesens hervorzuquellen, was von einem gefährlich wirkenden Zischen und Fauchen begleitet wurde. Für einen Traum war der Anblick von einer derartig beängstigenden Faszination, dass er einige Momente wie paralysiert auf das Wesen starrte.
Dann jubilierte sein Verstand. Da war sie, seine Chance, den Traumtod zu sterben. Ein Drache. Wie abartig. Das würde mal eine komplett neue Variante von Traumtod werden. Hier in diesem Traum würde er nicht lange gefangen sein, und er begann, erste Pläne zu schmieden. Er musste dringend zurück in die Realität.
«Der Mann sieht richtig aus, Meister Drache. Aber kann er uns auch verstehen?»
Mit einer ruckartigen Bewegung warf er den Kopf zu Seite, um den Sprecher erkennen zu können. Es handelte sich um eine etwas abseits stehende Person in einem dunklen Umhang, dessen Kapuze das Gesicht in Schatten hüllte. Er bemühte sich, Einzelheiten zu erkennen. Aber bis auf die Tatsache, dass es sich wahrscheinlich um einen mittelgroßen Mann handelte, konnte er nichts Genaues feststellen.
In dem Zischen des Untiers formten sich einzelne Worte: «Richtig? Er gleicht ihm wie ein Ei dem anderen, wie man unter uns Drachen sagt.»
Der Drache gab ein gackerndes Fauchen von sich, das unschwer als eine Art Kichern zu erkennen war, und fuhr fort: «Ich habe wie vereinbart alles Wichtige übertragen, also Sprache, Namen und sogar das Zeichen auf seiner Hand, als ich ihn gegen die Leiche seines Zwillings austauschte. Obwohl das wirklich schwierig war. Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten.»
«Wir werden sehen», antwortete der Kapuzenmann und drehte sich um. «Der Segen der Allmutter sei mit dir. Kannst du uns sagen, wie du heißt?»
Ja, wie hieß er? Was war eigentlich sein Name? Verwirrung. Er musste doch seinen Namen kennen. So ein merkwürdiger Traum. Er stockte nachdenklich. Überlegte. Dann kam aus den Tiefen seiner Gedanken ein Wort, ein Name, stieg empor an die Oberfläche. Ja. Das fühlte sich merkwürdig an. Aber irgendwie richtig. Ja, das war sein Name.
«Klavan», antwortete er. «Ich heiße Klavan!»
«Und wie ist dein wahrer Name?»
«Wahrer Name?» Klavan verstand nicht, was der Kapuzenmann von ihm wollte. «Was meinen Sie mit wahrem Namen?»
Der Drache grunzte zufrieden, und unter der Kapuze des Fremden meinte Klavan förmlich ein anerkennendes Lächeln zu sehen.
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