Dieses Mal warf ich Jacke und Bügel auf mein Bett, hechtete zur Tür und riss sie mit einem Ruck auf. Der Gang war und blieb leer. Wer konnte an meine Tür klopfen und dann innerhalb von zwei Sekunden spurlos verschwinden? Als ich noch ungläubig in die Gegend starrte, ließ mich ein drittes Klopfen zusammenschrecken und eine hohe aufgebrachte Stimme rief: „Wären sie so freundlich mir jetzt endlich zu öffnen?!“
Erst jetzt bemerkte ich, dass das Klopfen vom Fenster gekommen war. Nur lag mein Fenster im dritten Stock. Ich sah hinaus. Draußen war es zu dunkel um irgendetwas zu erkennen. Vorsichtig drehte ich den Griff und zog das Fenster auf.
Zusammen mit einem kräftigen Windstoß und einer Menge Regen kam ein kleines, klatschnasses Etwas in den Raum geflogen. Es fiel auf den Boden des Zimmers. Bei genauerem Hinsehen war es ein kleines Männchen etwa in der Größe einer Babypuppe. Seine Kleidung war vom Regen völlig durchnässt. Es trug einen winzigen Mantel und eine Hose aus einfachem braunen Stoff. Seine Schuhe waren grün, genau wie seine Wollmütze. Über die Schulter hatte er ein Lederband geschlungen, an dem ein kleines Säckchen baumelte.
„Ähm, hallo?“, sagte ich, „...Wer bist du?“ Das Männchen kam auf die Beine und baute sich breitbeinig vor mir auf, worüber ich vielleicht hätte lachen müssen, wenn ich nicht zu beschäftigt damit gewesen wäre, den kleinen Grünen sprachlos anzusehen.
Und als wäre er bisher noch nicht merkwürdig genug gewesen, schnellte plötzlich etwas hinter seinem Rücken hoch. Ich brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass es Flügel waren. Sie sahen aus wie die Flügel von Libellen, nur viel größer. Er flatterte damit, bis er mit mir auf Augenhöhe war und legte mit seiner schrillen Stimme los: „Wie lange wolltest du mich denn noch da draußen warten lassen, häh? Denkst du es macht Spaß, bei dem Wetter durch die Gegend zu fliegen?“ Er riss seine Mütze vom Kopf und raufte sich die nassen Haare, sodass sie in alle Richtungen abstanden. „Warum bin eigentlich immer ich derjenige, der solche bescheuerten Jobs erledigen muss?“ Ich wusste nicht wirklich, was ich darauf antworten sollte. Stattdessen starrte ich seine Ohren an, die unter der Mütze zum Vorschein gekommen waren und spitz nach oben zuliefen.
Der Kleine flog einen Looping, landete auf dem Tisch und bediente sich aus Rachels Chipstüte. Nachdem er von einem Chip, der in Relation zu seiner Größe ungefähr die Ausmaße einer Untertasse hatte, abgebissen hatte, meinte er mit etwas gefassterem Gesichtsausdruck: „Also gut.“
Er legte den Chip zur Seite und setzte eine geschäftliche Miene auf: „Dein Name?“ Ich war verwirrt genug ihm zu antworten: „Emily. Emily Morgan. Und wie heißt...“ Er bedeutete mir mit einer herrischen Geste zu schweigen, was aber so niedlich aussah, dass ich nicht wusste, ob ich beleidigt sein oder lachen sollte.
„Alter?“
„Sechzehn. Warum....“ Wieder die gleiche Handbewegung. So langsam ging er mir auf die Nerven.
„Warte!“, befahl er und dieses Mal schwang ein bisschen Aufregung in seinem geschäftlichen Tonfall mit, „Wenn ich dieses Mal endlich richtig liege – und das möchte ich mal hoffen – gehört das hier dir.“ Er fummelte einen Moment an seinem Lederbeutel herum und zog dann eine silberne Kette heraus. Ich betrachtete sie staunend. Auch wenn ich kein Schmuckexperte war, war mir klar, dass sie unglaublich wertvoll sein musste. An der feinen Silberkette hing ein Anhänger, der ebenfalls aus Silber bestand und dessen Rand mit unglaublich filigranen Mustern übersät war. In der Mitte des Anhängers saß ein klarer Edelstein, etwa so groß wie eine Walnuss, der das schwache Licht meiner Zimmerlampe in allen Farben reflektierte und den Hauch eines bunten Glanzes an die Wände warf.
„Das... kann nicht mir gehören“, stotterte ich, „Ich hab es noch nie gesehen.“
Das Männchen verdrehte nur die Augen: „Nimm schon!“
Mit zitternden Fingern griff ich nach dem Anhänger. In der Sekunde als ich ihn berührte, leuchtete der Stein auf und verströmte Licht in allen Regenbogenfarben. Und da war es wieder. Das Gefühl, das ich vorhin schon gehabt hatte, nur jetzt viel stärker. Ich spürte wie eine seltsame Energie mich durchströmte, es riss mich fast von den Füßen. Ich bemerkte, dass das Männchen, offenbar vom Licht geblendet, eine Hand vors Gesicht geschlagen hatte, aber jetzt neugierig und begeistert zwischen seinen Fingern hervorluchste. Dann, so plötzlich wie es gekommen war, war das Licht wieder erloschen. Nur ein Rest der flackernden unruhigen Energie war in mir zurückgeblieben.
Das geflügelte Männchen fing an wie verrückt im Kreis zu fliegen und zu jubeln. „Ha! Ich wusste es! Ich hab ihm gesagt ich krieg’s hin!“, rief er begeistert. So langsam hatte ich das Gefühl, dass er unter ziemlich starken Stimmungsschwankungen litt. Dann landete er vor mir auf dem Tisch. „Ich bin übrigens Finn.“ Er nahm meine Hand mit beiden seiner winzigen Hände und schüttelte sie.
„Ja...hallo, Finn“, stammelte ich, „Könntest du... mir vielleicht erklären was...“ „Das könnte ich, aber ich überlasse den Laberteil lieber Zalador.“ Er grinste vergnügt. „Jedenfalls gehört das Regenbogenamulett dir“, er zuckte die Schultern, „oder du ihm, wie man’s nimmt. Und das bedeutet...“, seine Augen leuchteten begeistert auf, „Komm mit!“
Er legte einen Tiefflug hin, wobei er seine nasse Mütze vom Boden aufhob und sie über seine zerzausten Haare zog. Vor dem Fenster machte er abrupt halt. „Oh, ich hab vergessen, du kannst ja nicht...“, er räusperte sich, „Nehmen wir die Tür.“
„Wir... Was?“, er gab mir das Gefühl schwer von Begriff zu sein und das machte mich wütend, „Wo willst du hin?“
„Nicht ich, wir “, sagte er langsam in einem Ton, in dem man mit Kleinkindern spricht, und deutete dabei abwechselnd auf sich und mich, „und das Wohin erklär’ ich dir auf dem Weg. Los jetzt. Mach die Tür auf!“, er schwirrte über der Türklinke herum.
„Ach, und was ist, wenn ich nicht mitkommen will?“, fragte ich, „Außerdem wird es vielleicht ein bisschen kompliziert, wenn mir im Flur jemand entgegen kommt und ein kleines Männchen neben mir herumflattern sieht.“
Er schnappte beleidigt nach Luft: „Zuerst einmal bin ich ein Elf! Und außerdem“, er grinste verschmitzt, „ willst du mitkommen, weil du neugierig bist.“ Ich biss mir auf die Lippe. Leider hatte er Recht. Ich konnte es schließlich nicht einfach ignorieren, wenn ein Elf in meinem Zimmer landete. „Und was deine Sorge angeht, dass mich jemand sehen könnte...“, fügte er mit wissender Miene hinzu, „Ich schwirre ich schon seit zwei Tagen um eure Schule herum und niemand hat mich bemerkt.“ „Du... Moment“, eine Erinnerung flackerte in mir auf, „Dann hab ich dein Gesicht in diesem Baum gesehen?“ „Er zuckte mit den Schultern: „Vermutlich. Und du hast zwei Sekunden später geglaubt, du hättest es dir nur eingebildet, stimmt’s? Machst du jetzt endlich die Tür auf?!“
Ich griff meine Regenjacke, die noch immer auf dem Bett lag und öffnete die Tür. „Ach, und mach das Amulett am Besten um den Hals“, meinte Finn, bevor er in den Gang hinausschwirrte. Ich sah die Kette mit dem leuchtenden Stein ein wenig verwirrt an, da ich überhaupt nicht gemerkt hatte, dass ich sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Dann hängte ich mir die feingliedrige Silberkette um den Hals, zog die Jacke über und schloss leise die Tür hinter mir.
„Wo ist hier der Ausgang?“, flüsterte Finn. „Hier lang.“ Ich ging voraus und versuchte, mit den flachen Absätzen meiner Schuhe möglichst wenige Geräusche zu erzeugen. Als wir an der Lehrercaféteria vorbeikamen, brannte dort noch Licht und die Tür stand einen Spalt offen. Im Vorbeigehen warf ich einen kurzen Blick hinein und Finn tat einige Zentimeter über mir das Gleiche. Beim Anblick unserer Chemielehrerin Mrs. Shears im knallpinken flauschigen Schlafanzug stieß er ein gackerndes Lachen aus.
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