Bevor ich das Eiscafé ansteuerte, machte ich einen Abstecher in die Bibliothek und lieh mir einen dicken Wälzer über griechische und römische Sagen aus. Morgen war ich in Geschichte mit meinem Vortrag über Odysseus dran. Eigentlich war das für mich ein Heimspiel, Sagen und Mythen interessierten mich einfach. Auf dem Regal über meinem Bett stapelten sich Bücher mit Sagen aus aller Welt, weshalb ich von Rachel regelmäßig von Kopfschütteln begleitete, herablassende Kommentare zu hören bekam. Trotzdem war unsere Geschichtslehrerin, die genau wie ich ihre halbe Freizeit in der Bibliothek verbrachte, immer begeistert, wenn man ausgeliehene Bücher mitbrachte, um daraus ein paar Zeilen vorzulesen.
Das Buch unter dem Arm schlenderte ich dann die Straße weiter hinunter zum Eiscafé Venezia, dem Zuhause des besten Erdbeereisbechers der Welt. Die kleinen Plastiktische waren allesamt besetzt, aber Jared hatte schon einen freigehalten. Er zwinkerte mir zu, als ich mich zwischen Gästen und Kellnern hindurchschlängelte. Schließlich ließ ich mich ihm gegenüber in einen Stuhl fallen und knallte das Buch auf den Tisch. „Puh, ist das warm heute!“, ich legte einen Moment den Kopf in den Nacken und sah in den blauen Himmel, „Es ist schön, dich mal wieder zu sehen.“ Er lächelte, „Es ist schön dich mal wieder zu sehen. Ich bin echt froh, dass es dir gut geht.“
Seine Stimme klang dabei so erleichtert, dass ich stutzte: „Warum sollte es mir nicht gut gehen?“
Er fummelte an einem Zipfel der Tischdecke herum, „Naja, ein Kollege hat mir erzählt, an eurer Schule sei die Schweinegrippe ausgebrochen.“
„Ach Quatsch, das war nur ein Junge. Und der ist schon längst wieder gesund. Du brauchst dir keine...“
„Haben sie sich schon entschieden, Signorina?“, der ältere, italienische Kellner tupfte sich den Schweiß von der Stirn und fischte Block und Stift aus seiner Tasche.
Das war keine schwere Entscheidung, da ich hier immer das Gleiche bestellte, „Einen Erdbeerbecher, bitte.“
„Für mich den Schokobecher“, meinte Jared nach einem kurzen Blick in die Karte.
„Ok, multo bene, kommt sofo... Mamma Mia!“, der Kellner stieß eine Reihe italienischer Flüche aus und stürzte davon, um seine Aushilfe zu beschimpfen, die gerade ein Milchshake auf die Straße gekippt hatte.
Jared warf einen neugierigen Blick auf mein Buch: „Was ist das?“
„Ein Sagenbuch“, ich drehte es herum, sodass er den Titel lesen konnte, „für Geschichte.“
Mit ein wenig zusammengekniffenen Augen deutete er auf das Bild auf dem Einband – eine Vasenzeichnung mehrerer Fabelwesen mit einem Pferdekörper und dem Oberkörper eines Mannes, dort wo der Hals des Pferdes normalerweise saß: „Sind das Zentauren?“
„Genau“, ich zwängte das Buch in meine Tasche und schloss den Reißverschluss, „Warum bist du uns dieses Jahr eigentlich nicht besuchen gekommen? Zu alt zum Bergsteigen?“
Er lachte, „Nein, ich hatte einfach nur... viel zu tun. Keine Zeit, um Urlaub zu machen.“
Ich nickte und mir wurde bewusst, dass ich gar nicht wusste, was ein Schulrat eigentlich den ganzen Tag machte, wenn er nicht gerade in einem Klassenraum herumsaß und die Schule inspizierte. Vielleicht war er deshalb so blass, weil er, statt sich draußen zu sonnen, seine Ferien hinter dem Schreibtisch verbracht hatte. „Du Armer“, ich hängte meine Tasche wieder an den Stuhl, „Tja, mein Sommer war eigentlich ganz gut, wenn man davon absieht, dass Sarah uns für zwei Wochen nach Ayton zu ihren Verwandten verschleppt hat.“ Jared lachte, „Zu Onkel Mike.“ Seufzend nickte ich, „Ganz genau, zu Onkel Mike.“ Sarah war meine Adoptivmutter und über ihren Onkel hatte Jared von mir schon einige Tiraden zu hören bekommen. „Und, wie geht’s ihm?“, fragte er, „Gut?“ Ich verdrehte die Augen, „Zu gut. Der Mann ist siebzig und macht mehr Sportarten als das Internat anbietet.“
„Hoppala!“, der italienische Kellner zwängte seinen rundlichen Bauch zwischen den voll besetzten Tischen hindurch. „Schoko für Sie?“ Jared nickte, „Danke.“ „Ah, und Erdbeer für die Signorina“, mit schwungvoller Geste stellte er beide Eisbecher auf dem Tisch ab.
„Danke. Mmmh, das sieht lecker aus!“, ich machte mich sofort über meinen Eisbecher her und Jared tat es mir nach.
„Aber...“, sagte er plötzlich und betrachtete mich ein wenig beunruhigt, „du hast nicht wieder solche... du weißt schon... hellseherischen Anwandlungen gehabt, oder?“
Jared war der einzige Mensch, dem ich das je erzählt hatte, und ich hatte es Sekunden danach schon wieder bereut, weil er vor Schreck fast vom Stuhl gekippt war und mich danach die ganzen Sommerferien pausenlos auf diese merkwürdige Art von der Seite angesehen hatte.
„Nein“, log ich, „schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich waren das damals nur ein paar verrückte Zufälle.“
„Mmmh“, murmelte er und löffelte wieder in seinem Eis herum, „Und ähm... schmeckt dir das Eis?“ Das war ein etwas plumper Versuch die leicht angespannte Stille, die dieses Thema nach sich gezogen hatte, zu brechen, aber ich war trotzdem froh darüber.
„Klar! Erdbeereis ist einfach das Beste. Und Venezia ist die beste Eisdiele.“
Er grinste ein wenig erleichtert: „Quatsch, Schokolade ist das Beste! Außerdem schmeckt Erdbeereis gar nicht nach richtigen Erdbeeren. Weißt du, wie viele unschuldige, köstliche Früchte für das da sterben mussten?“
Nachdem wir einige Minuten wortreich über Eissorten diskutiert hatten, rief Jared den Kellner: „Wir möchten bitte bezahlen.“
„Denk nicht mal daran, Emily!“, fügte er grinsend hinzu, als ich mein Portmonee zücken wollte. Ich verdrehte die Augen und lächelte: „Danke.“
„Geht doch klar“, er stand auf, „Na dann mal los, der Himmel sieht schon ziemlich düster aus.“
Er hatte Recht, das Gewitter stand unverkennbar kurz bevor, also legten wir den Rückweg zum Internat zügig zurück. Gerade als wir den Hof überquerten, fielen die ersten Regentropfen. Jared stieß die Eingangstür auf, „Na, wenn das kein perfektes Timing ist.“
Ich lachte, „Du musst nächsten Sommer wieder bei uns Urlaub machen, okay?“
„Ich versuch’s“, er umarmte mich und ich bemerkte den vertrauten Geruch nach Pfefferminzkaugummis, „Ich muss jetzt los. Aber es war toll dich zu sehen.“
Ich lächelte, „Dich auch. Mach’s gut.“
Nach dem Abendbrot lag ich im Bett und las das Buch aus der Bibliothek. Es war ein herrliches Gefühl, mich in meine warme Decke zu kuscheln und dabei dem Donner und den Regentropfen, die gegen mein Fenster klatschten, zuzuhören. Da die Lehrer am Freitag nicht so streng waren, wenn wir länger aufblieben, war Rachel zu ein paar von ihren Freundinnen gegangen, um einen Horrorfilm zu gucken. Also hatte ich das Zimmer für mich allein.
Leider war mein Buch eine der nervigen Ausgaben ohne Inhaltsverzeichnis und hatte geschätzte eine Million Seiten. Also blätterte ich hin und her, auf der Suche nach der Sage von Odysseus, als plötzlich ein merkwürdiges Kribbeln durch meinen Körper fuhr. Ich schlug meine Decke zur Seite, legte das Buch weg und sprang auf. Ich hatte das Gefühl mit Energie geradezu vollgepumpt zu sein. Ich musste mich unbedingt bewegen. Am besten laufen, draußen an der frischen Luft. Gewitter hin oder her.
Ich wühlte in meinem Schrank nach der Regenjacke, die ich über den Sommer in die hinterste Ecke verbannt hatte, als ein Klopfen ertönte, das aus dem Klatschen der Regentropfen gegen mein Fenster kaum herauszuhören war. „Herein!“, rief ich und fischte ein Paar wetterfeste Schuhe unter meinem Bett hervor, „Die Tür ist nicht abgeschlossen.“
Aber niemand kam. Genervt öffnete ich die Tür und sah auf den dunklen, leeren Gang. Ich schaltete das Licht ein und wieder aus, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Gut, vermutlich hatte ich mir das eingebildet. Bei den lauten Geräuschen, die der Sturm draußen machte, war das kein Wunder. Ich schloss die Tür wieder und betrachtete mit gerunzelter Stirn die Regenjacke und die Schuhe. So ein Quatsch, ich wollte doch bei diesem Wetter nicht draußen herumlaufen! Ich nahm einen leeren Bügel aus dem Schrank und wollte die Jacke wieder aufhängen, da ertönte wieder ein Klopfen, lauter und energischer als davor und definitiv nicht von Regentropfen verursacht.
Читать дальше