Bevor ich ins Internat kam, hatte ich nämlich bei einer Familie in den Bergen gelebt, in der Nähe vom Ben Nevis. Jared gehörte ein kleines Ferienhaus in unserer Straße. Als begeisterter Bergsteiger fuhr er jeden Sommer für ein bis zwei Wochen hin, freundete sich bald gut mit meinen Adoptiveltern an und nahm mich, als ich alt genug war, oft zum Bergsteigen oder Skifahren mit.
Als ich von der kleinen Dorfschule ins Internat gekommen war, hatte ich festgestellt, dass Jared Hunter Professor war und zu den Schulräten gehörte, die jedes Jahr unsere Schule inspizierten.
Sein Besuch in meiner zweiten Schulwoche war eine Erleichterung gewesen, da ich endlich wieder ein Gespräch mit jemandem führen konnte, der nicht ständig Fragen stellte, wie jeder einzelne Schüler meiner neuen Klasse. Wo hatte ich vor der Adoptivfamilie gewohnt? Konnte ich mich noch an meine Eltern erinnern? Ich hasste solche Fragen. Natürlich konnte ich mich nicht an sie erinnern, genauso wenig wie an London. Dort hatten wir gelebt, bis im Gebäudekomplex ein Feuer ausbrach. Elf schwer Verletzte, fünf Tote, dazu gehörten auch meine Eltern, Luke und Sophie Morgan. Damals war ich gerade mal ein Jahr alt gewesen.
Alles was ich über meine Eltern weiß ist, dass sie nicht arm gewesen sein können. Denn sie haben mir eine gehörige Summe Geld hinterlassen, die inzwischen wahrscheinlich nicht mehr ganz so groß ist, weil davon seit fünf Jahren das nicht gerade billige Internat bezahlt wird. Außerdem haben sie kurz vor dem Unfall ein Dokument bei einem Notar eingereicht, das besagt, dass ich auf keinen Fall in ein Waisenhaus gesteckt werden soll. Wenn mich niemand freiwillig adoptierte, sollte man die Familie von ihrem Geld bezahlen.
Der Notar, mit dem ich mich treffen musste, um das Geld für das Internat bezahlen zu können, hat mir von diesem Dokument erzählt. Er hat auch gesagt, dass er sonst niemandem davon erzählen werde, da er einer Schweigepflicht unterliege. Auch ich sollte es lieber für mich behalten, weil es für andere Leute so aussehen könnte, als seien meine Eltern von ihrem jungen Tod und damit von dem Brand nicht überrascht gewesen. Er hat sich anscheinend nicht getraut es so zu sagen, aber ich habe trotzdem verstanden, was er meinte. Seiner Meinung nach besteht die Chance, dass meine Eltern, aus welchen Gründen auch immer, den Brand gelegt haben.
Aber ich glaube das nicht. Ich bin sicher, dass sie es geahnt hatten und Angst hatten, weil sie nicht wussten, was mit mir passieren würde, wenn es tatsächlich so kommen sollte.
Und ich glaube, dass ich das von ihnen geerbt habe. Manchmal ahne ich einfach, wie sich die Dinge entwickeln. Ich bin keine Hellseherin und kann auch nicht die Zukunft voraussagen oder so was. Und nein, verrückt bin ich auch nicht. Aber zum Beispiel hatte ich schon den ganzen Tag auf eine gute Nachricht gewartet, die Miss Clinton ja jetzt verkündet hatte. Und das ist nicht alltäglich, da ich nicht unbedingt das bin, was man als Optimistin bezeichnen würde.
„Schreibt euch das in den Kalender!“, befahl Miss Clinton, „Wer morgen zu spät kommt oder mich auf irgendeine andere Weise vor den Schulräten blamiert, sitzt nach!“
Da lief ich keine Gefahr, da ich sowieso zu den wenigen Leuten gehörte, die pünktlich zum Unterricht kamen. Zufrieden malte ich einen Smiley neben das Datum vom 17.08. und stopfte meine Sachen in die Tasche.
Es klingelte und sofort begannen überall Stühle zu scharren, was Miss Clintons Ausführungen über die Bestrafung potentieller Störenfriede untergehen ließ. „Der Lehrer beendet die Stunde!“, schrie sie in den allgemeinen Tumult hinein, „Setzen!“
Ungeduldig hörten wir zu, wie sie die Hausaufgaben ansagte, bis sie uns endlich nach draußen schickte. Als ich mir meine Tasche überwarf, sah ich plötzlich eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Die alte Kastanie vor den Fenstern des Klassenraumes schwankte sanft im Wind. Ich kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen und sah genauer hin. War da nicht eben ein Gesicht gewesen?
„Raus mit dir Emily“, Miss Clinton machte eine ungeduldige Handbewegung, ohne den Blick von den auf ihrem Tisch verteilten Zetteln zu heben. Ich sah noch einmal über die Schulter, aber zwischen den Zweigen bewegte sich nichts.
„Emily! Hallo, Emily, wach auf!“
Verwirrt öffnete ich die Augen und sah meine Zimmergenossin Rachel, die mich an den Schultern rüttelte. Als sie sah, dass ich wach war, ließ sie mich los und ließ sich mit genervtem Gesicht auf ihr eigenes Bett fallen.
„Du hast geschrien“, meinte sie, „...wieder mal.“ Ich schlug meine Decke zur Seite, lehnte mich an die Wand und stellte fest, dass mein Herz raste und ich völlig verschwitzt war. Für einen Moment tauchte das Bild meines Albtraums wieder vor meinem inneren Auge auf. Ein riesiger Drache mit einem schlangenartigen, von schwarzen Schuppen bedeckten Körper und Reißzähnen, so lang wie mein Unterarm. Es war derselbe Traum, der seit Tagen immer wiederkehrte.
„Wie spät ist es?“, fragte ich, zu erschöpft um auf dem Nachtschrank nach meiner Uhr zu tasten. Rachel strich sich die krausen Locken aus dem Gesicht und warf einen Blick auf ihren Wecker. „Gleich fünf. Ich würde jetzt gern noch ’ne Stunde schlafen, wenn du nichts dagegen hast.“ Mit diesen Worten schnappte sie sich ihre Decke und drehte das Gesicht zur Wand. „Und wenn du dir nicht bald einen Traumfänger oder so was besorgst, will ich eine neue Zimmernachbarin.“ Ich seufzte und sah aus dem Fenster. Der Himmel war schon hell und völlig wolkenlos. Ich stieg aus dem Bett und warf Rachel einen Blick zu. Sie hatte ihre Decke trotz der Wärme im Raum beinahe bis über den Kopf gezogen sodass nur ein Büschel lockiger brauner Haare zu sehen war. „Okay... ich geh duschen“, teilte ich ihrem bewegungslosen Körper mit und öffnete die Tür.
Etwa zwei Stunden später betrat ich den Klassenraum und musste unwillkürlich grinsen. Das Bild, das sich mir bot, hätte es in jede Comedy-Serie geschafft. An die hintere Wand hatte man fünf Extrastühle aufgestellt, auf denen die Schulräte bereits saßen. Auf wundersame Weise hatten es auch die Mädchen, die es mit der Pünktlichkeit sonst nicht so genau nahmen, geschafft, rechtzeitig da zu sein. Eine große Traube von ihnen, die wiederum missbilligend von den schon anwesenden Jungen beobachtet wurde, stand in einer Ecke des Raumes und warf Carrie böse Blicke zu. Diese stolzierte nämlich gerade an den Schulräten vorbei, warf ihr blondiertes Haar in den Nacken und schenkte Jared, der im Moment ganz unvorbildlich Kaugummi kaute und gelangweilt in die Gegend starrte, ein strahlendes Lächeln.
Er lächelte höflich zurück, woraufhin die Mädchentraube in der Ecke in wütendes Tuscheln ausbrach und die Jungs die Augen verdrehten und begannen ihn nachzuäffen, und drehte sich in Richtung Tür, als sie hinter mir ins Schloss fiel. „Emily!“, er stand auf und lächelte jetzt wirklich - Carrie schloss sich der böse Blicke werfenden Traube an.
Jared sah ein wenig blasser aus als sonst und hatte einen Dreitagebart. Trotzdem strahlten seine Augen so lebendig wie immer, als er mich kurz umarmte, was wiederum ein kollektives Tuscheln auslöste, und fragte: „Heute Nachmittag im Venezia?“ Ich lächelte. „Na klar, wie immer.“
Mit einem seltenen Hochgefühl stolzierte ich zu meinem Platz. Ashley starrte mich giftig an und nahm ihren Platz vor meinem ein. „Hast du irgendein Problem, Ashley?“ Sie schnaubte und wandte sich ab. Ich warf Jared einen Blick zu und stellte fest, dass er uns amüsiert beobachtete. Es war nicht nur die Tatsache, dass Ashley und Carrie vor Eifersucht kochten, die mich fröhlich machte. Vor allem war es einfach ein tolles Gefühl ihn wiederzusehen.
Nach der Schule machte ich mich auf den Weg ins Dorf. Noch war der Himmel strahlend blau und die Sonne knallte nur so auf die hellen, gepflasterten Straßen mit den kleinen Läden und den sommerlich bunt gekleideten Menschen herab, aber am Horizont waren schon dunkle Wolken zu erkennen. Weil für heute Nacht Gewitter angesagt war, hatte Miss Clinton mich beschworen auch ja vor dem Unwetter im Internat zu sein.
Читать дальше