Zunächst machte sich Wronka überhaupt keine Gedanken. Berti kannte ja den Weg. Spätestens in Höhe der Gerichtsstraße würde der Foxterrier auf ihn warten. Deshalb sah er keinen Grund zur Eile. Trotz der klirrenden Kälte spazierte er gemächlichen Schrittes den verschneiten Weg entlang und genoss die herrliche Stille, die ihn umgab.
Der Schnee schluckte jedes Geräusch. Normalerweise sind auch am späten Abend die verschiedensten Lärmquellen zu hören, ging es dem Rentner durch den Kopf. Das Hupen von Autos, das Pfeifen von Lokomotiven, das Dröhnen von Stereoanlagen und das Bellen von Hunden.
Apropos Hunde, dachte er. Berti könnte sich langsam wieder mal blicken lassen.
Doch als er die Stelle erreicht hatte, wo sie in die Gerichtsstraße abbiegen mussten, war Berti immer noch spurlos verschwunden. Sein Herrchen steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Dann rief er laut den Namen des Hundes.
Als Berti auch nach mehrmaligem Pfeifen und Rufen nicht auftauchte, begann Siegmund Wronka sich Sorgen zu machen. Ihm wird doch nichts passiert sein?, dachte er und überlegte, was er nun noch unternehmen könnte. Da hörte er plötzlich ein heftiges Schnaufen. Es drang aus einem Gestrüpp etwa zwanzig Meter entfernt. Er ging langsam darauf zu und rief noch einmal: „Berti, kleiner Racker, wo steckst du denn?“
Der Foxterrier antwortete mit einem beunruhigenden Gejaule.
„Komm' jetzt, Berti. Bei Fuß!“
Berti machte ein paar Sätze durch den hohen Schnee auf ihn zu. Da erkannte der Rentner, dass sein Hund etwas im Maul hatte und hinter sich her schleifte. Etwas Großes, bei der Dunkelheit und Entfernung zunächst noch Undefinierbares. Siegmund Wronka machte jetzt auch ein paar Schritte auf Berti zu. „Was hast du denn da?“ Er beugte sich zu dem Vierbeiner hinab. „Aus!“
Berti ließ das große Etwas fallen und schaute mit wedelndem Schwanz zu seinem Herrchen hoch.
„Eine Trainingsjacke“, stellte Wronka verwundert fest. „Wo hast du die denn her?“ Sie gehört sicher einem von diesen Tschoggern , dachte er, hob die Jacke auf und nahm sie genauer in Augenschein. „Oh, mein Gott!“, stieß er plötzlich hervor. „Das Ding ist ja voller Blut!“ Angeekelt ließ er die Sportjacke zu Boden fallen. „Los, Berti, zeig' mir, wo du sie her hast.“
Der Hund verstand sofort und sprang wieder auf das Gestrüpp zu. Siegmund Wronka folgte ihm, so schnell er konnte.
Es war ein beinahe undurchdringliches Dickicht aus dornigem Geäst. Die Zweige zerkratzten dem Rentner das Gesicht, als er sich immer tiefer hinein kämpfte. Er stolperte mehrmals und fluchte ebenso oft, bis er endlich am Ziel war. Berti begann wieder mit seinem beunruhigenden Gejaule und ging dann zu einem jämmerlichen Gewinsel über.
Siegmund Wronka konnte in der Finsternis, die ihn umgab, so gut wie nichts erkennen. Er nahm seine Brille ab und wischte sie mit dem Taschentuch trocken. Das half allerdings auch nicht viel. Erst als sich seine Augen nach einer Weile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wurde ihm klar, was er da entdeckt hatte. „Oh, mein Gott!“, stieß Wronka wieder hervor. „Da liegt ja ein Mann! Und er ist voller Blut.“ Der Rentner stieß den Körper des Mannes mit dem Fuß an, aber er bewegte sich nicht. Dann ging er in die Knie und begann zu rütteln. Immer noch nichts. Ein gewaltiger Schreck fuhr ihm in die Glieder. Sein Herz pochte laut und immer schneller. Das Blut in seinen Schläfen pulsierte wild. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und rang mühsam um Fassung. Die ängstlichen Hundeaugen, die zu ihm aufblickten, waren dabei keine große Hilfe. „Was sollen wir jetzt tun, Berti?“, stammelte er. „Der Mann ist tot.“
Der Foxterrier jaulte wieder kurz auf.
„Ein toter Mann in Unterwäsche...“
00:27 h
„Jetzt reicht's mir aber!“ Manuela Herder platzte langsam der Kragen. Die angekündigte halbe Stunde war schon lange vorüber und der Zug nach Köln noch immer nicht durch. Die öde Warterei zehrte an ihren Nerven. Warum informiert mich keiner?, dachte sie und griff zum Diensttelefon.
Es dauerte lange, bis sie den Fahrdienstleiter im Bahnhof von Biedenstadt am Apparat hatte.
Er war nicht viel besser gelaunt als sie: „Ich hätte Ihnen schon Bescheid gesagt, wenn ich Näheres wüsste.“
„Zum Teufel“, schimpfte Manuela. „Wo bleibt denn der blöde Zug?“
„Er steckt immer noch da unten fest. Die Gerolsteiner kriegen ihn einfach nicht frei.“
„Warum nicht?“
„Weil der Wind den Schnee meterhoch auf die Schienen geweht hat. Auf einer Länge von mehreren hundert Metern.“
„Und was heißt das?“
„Das heißt, dass es noch eine Weile dauern kann, bis es weitergeht. Vielleicht muss der Zug auch nach Trier zurückfahren und über Koblenz umgeleitet werden.“
„Und wozu hocke ich dann hier, die ganze Nacht?“
„Liebe Frau Herder. Sie sind nicht die einzige. Ich muss ebenfalls hier sitzen.“
„Aber Sie haben wenigstens etwas zu tun. Ich komme hier vor Langeweile um.“
„Haben Sie nichts zu lesen dabei?“
„Nein.“
„Mhmm. Sie hätten sich etwas mitbringen sollen.“
„Danke für den Tipp“, schnaubte sie. „Ich hatte ja keine Ahnung, wie öde so eine Nachtschicht hier ist. Ich fühle mich überflüssig wie ein Kropf. Am liebsten würde ich wieder nach Hause fahren.“
„Mooo-ment!“ Armin Ludewig kehrte jetzt den Vorgesetzten heraus. „Sie bleiben schön da, wo Sie sind.“
„Ist ja schon gut“, sagte Manuela kleinlaut. „Es war nicht ernst gemeint.“
„Falls die Gerolsteiner es doch noch schaffen, kann der Zug jederzeit kommen. Also, halten Sie sich bereit.“
„Okay. Tschüss dann“, sagte sie, hängte ein und gähnte. Dann stand sie von ihrem alten Bürostuhl auf und machte ein paar gymnastische Übungen, um die Müdigkeit aus dem Körper zu vertreiben. Allerdings nur mit mäßigem Erfolg.
Ich muss mal, dachte sie und schielte dabei nach dem Diensttelefon. Ich hätte Ludewig meine Handynummer geben sollen, damit er mich auch draußen erreichen kann. Aber was soll's? Ich bleibe nur ein paar Minuten weg. Länger halte ich es in der Kälte sowieso nicht aus.
Sie zog ihre warmen Sachen an, kletterte die schmale Stiege hinunter und öffnete die Tür. Ein eisiger Wind wehte ihr entgegen. Aus dem Plumpsklo neben dem Schrankenwärterhäuschen drang ein unangenehmer Gestank herüber. Manuela ging trotzdem hinein und erleichterte sich. Mit zugehaltener Nase, damit ihr nicht übel wurde. Nein, das war kein Luxus-Arbeitsplatz hier. Da hatte es der Fahrdienstleiter in seinem modernen Stellwerk doch ein bisschen bequemer als sie hier draußen...
Auf der Straße kroch gerade ein Auto vorbei, als sie die morsche Holztür des Toilettenhäuschens hinter sich schloss. In der Ferne sah sie den Lichtkegel eines zweiten Auto, das auf den Bahnübergang zusteuerte. Wenn jetzt der Regionalexpress käme, überlegte sie, dann gäbe es wohl ein Unglück. Aber er kommt ja nicht. Noch nicht. Wer weiß, ob er überhaupt kommt?
Zeit genug jedenfalls, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Sie wandte sich von der Straße ab und stapfte an der Bahntrasse entlang durch den hohen Schnee. Es ist erstaunlich hell, dachte sie.
Eigentlich ging sie nicht gerne nachts allein spazieren. Sie fürchtete sich im Dunkeln. Aber der Schnee tauchte die Landschaft in ein unschuldiges Weiß. Abgesehen davon – hier draußen ist ja eh keiner, versuchte sie sich Mut zu machen. Wer soll mir hier schon auflauern?
Als sie etwa fünf Minuten gegangen war, hielt sie plötzlich inne. Da vorne ist doch was, dachte sie. Irgendwas liegt da. Auf den Schienen...
Sie strengte ihre Augen gewaltig an, doch sie konnte nicht erkennen, was es war. Ein Tier, schoss es ihr durch den Kopf. Ein großes Tier liegt auf dem Gleis. Wenn der Zug kommt, wird es überfahren. Ich muss es schnellstens verscheuchen.
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