„Dann hab' ich einen lauten Schrei gehört.“
„Einen Schrei?“
„Ja, ein Mann hat geschrien. Wie am Spieß.“
„ Was hat er geschrien?“
„Nichts Bestimmtes. Einfach geschrien.“
„Aha. Und wie ging es weiter?“
„Dann ging die hintere Tür von dem Taxi auf und jemand sprang heraus.“
„War es ein Mann?“
„Ich glaube schon.“
„Wie sah er aus, der Mann?“
„Schwer zu sagen...“
„Nun strengen Sie Ihr Hirn mal ein bisschen an. Als Sie mit dem Radioreporter gesprochen haben, waren Sie doch auch sehr auskunftsfreudig, wenn ich richtig informiert bin.“
„Na ja...“
„Der Mann soll ein Südländer gewesen sein, mit dunklen Haaren...“
„Kann schon sein...“
„Kann sein? Oder haben Sie es gesehen?“
„So genau nun nicht...“
„Ich verstehe.“ Der Kommissar seufzte. Es war immer das Gleiche mit diesen Zeugen. Vor den Presseleuten wollten sie sich wichtig tun. Aber wenn es ernst wurde, zogen sie den Schwanz ein. Darum wechselte er das Thema: „Wo ist der Mann hingelaufen?“
„Die Lindenallee 'runter. Richtung Bahnhof.“
„Und da sind Sie sicher?“
„Ich glaub' schon...“
„Wieso haben Sie nicht sofort die Polizei verständigt?“
„Ich konnte doch nicht wissen, dass der Kerl den Taxifahrer umgebracht hat.“
„Was haben Sie denn gedacht?“
„Nichts. Ich hab' mich wieder in meinen Schlafsack verkrochen und...“
„Was – und?“
„Und nichts. Ich wollte meine Ruhe haben.“
Kommissar Rohde war fassungslos. Am liebsten hätte er ihn geohrfeigt. Diesen verdammten Penner! „Erst als der Reporter vom Radio kam, sind Sie offenbar wieder munter geworden.“ Sein Sarkasmus war unüberhörbar.
„Nein, schon früher“, erwiderte Schenk kleinlaut. „Da war auf einmal ein zweites Taxi. Der Fahrer drückte ein paar Mal auf die Hupe. Dann stieg er aus und sah nach, was mit seinem Kollegen los war. Und ein paar Minuten später herrschte hier ein Riesentrubel. Polizei. Krankenwagen. Viele Schaulustige. Und die Presse.“
„Ja, ja, die Presse.“
„Dieser Typ vom Rundfunk, der kam zu mir 'rüber. Und dann hat er mir sein Mikrofon unter die Nase gehalten.“
„Und Sie haben die Gelegenheit ausgenutzt...“
„Aber nein! Er hat mir die Worte in den Mund gelegt. Ich hab' eigentlich gar nichts gesagt. Nur ab und zu genickt.“
„Na schön, Herr Schenk.“ Ernst Rohde fühlte, wie sein Ekel wieder die Oberhand gewann. „Das reicht erst mal für den Augenblick. Sie halten sich selbstverständlich zu unserer Verfügung, falls wir weitere Fragen an Sie haben.“ Er pfiff Harry Schäfer herbei, der lässig auf der Motorhaube seines Dienstwagens hockte und eine Zigarette rauchte. „Bringen Sie den Mann weg. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Holen Sie mir stattdessen diesen Taxifahrer, der die Leiche entdeckt hat.“
„Okay, Chef.“
Doch auch von dem zweiten Zeugen erfuhr Hauptkommissar Rohde nichts, was er nicht schon wusste. Die Informationen über den Täter waren dünn, äußerst dünn: Sehr wahrscheinlich handelte es sich um einen Mann; wahrscheinlich blutbefleckt; vielleicht dunkelhaarig; womöglich war er zu Fuß in Richtung Bahnhof geflüchtet.
Natürlich hatten sie dort längst nach ihm gesucht. In der Bahnhofshalle. In der Bahnhofskneipe. Auf dem Bahnhofsklo. Nichts. Der Kerl blieb spurlos verschwunden.
23:31 h
„Verdammter Mist!“ Manuela Herder knallte ihr Handy auf die Tischplatte. Gerade hatte sie zum x-ten Mal auf Wahlwiederholung gedrückt, um endlich mit Martin zu sprechen. Aber entweder weigerte er sich ans Telefon zu gehen oder – noch schlimmer – er war nicht zu Hause. Und die zweite Möglichkeit wurde für Manuela von einem Versuch zum nächsten immer wahrscheinlicher.
Im gleichen Takt wuchs ihr Groll gegen Martin: Erst jammert er herum, weil ich an Heiligabend ein paar Stündchen mit meiner Familie verbringen will. Dann macht er sich selbst aus dem Staub, anstatt auf mich zu warten. „Männer sind doch Egoisten“, schimpfte sie laut, „alle miteinander!“
Wenn er wenigstens ein Handy hätte. Manuela konnte nicht nachvollziehen, warum ihr Freund sich bisher standhaft geweigert hatte eines anzuschaffen. Als Student könne er sich das nicht leisten, behauptete er. Außerdem begreife er nicht, warum so viele Menschen das Bedürfnis hätten ständig erreichbar zu sein. Diesem Telefonterror wolle er sich nicht unterwerfen. Den Großen Lauschangriff hatte er es mal genannt. Und außerdem: Mit einem Handy in der Tasche kann man überall geortet werden. So weiß der Staat jederzeit, wo du gerade bist, was du gerade machst, hatte Martin behauptet. Big Brother is watching you! Auch so eine seiner Verschwörungstheorien...
Manuela lächelte grimmig. Sobald das Baby da ist, beschloss sie jetzt, werde ich ihm ein Handy kaufen. Dann kann er sich seiner Verantwortung nicht mehr entziehen.
Oh ja, das Baby. Heute wird Martin wohl nicht mehr erfahren, dass er Vater wird. Wieder eine Gelegenheit verpasst, ärgerte sich Manuela. Ich habe es viel zu lange vor mir her geschoben. Aber morgen ist ja auch noch ein Tag. Oder soll ich einen Schlussstrich ziehen und meine Schwangerschaft vor ihm verheimlichen? Nein, es ist schließlich auch sein Kind. Und ich liebe ihn.
Die nächtliche Stille im Schrankenwärterhäuschen wurde erst von einem tiefen Seufzer unterbrochen und unmittelbar darauf vom schrillen Läuten des Diensttelefons. Manuela fuhr zusammen. Dann nahm sie mit zitternden Händen den Hörer ab.
„Herr Klumpp?“, kam es vom anderen Ende der Leitung.
„Nein, hier ist Herder.“ Manuela spürte die Verwunderung des Anrufers. Es war Fahrdienstleiter Armin Ludewig vom Bahnhof in Biedenstadt. Sie hatte ganz vergessen ihn bei Dienstantritt zu informieren. Jetzt entschuldigte sie sich und klärte ihn über die Situation auf.
„Oh, das tut mir Leid für Sie, Frau Herder. Ausgerechnet heute, an Heiligabend, müssen Sie einspringen.“
„Hmhm.“
„Aber warum soll es Ihnen besser gehen als mir?“ Ludewig lachte. Als er jedoch merkte, dass sein Humor keinen Widerhall fand, wurde er dienstlich: „Äh, warum ich eigentlich anrufe – der Regionalexpress nach Köln verspätet sich. Wie es aussieht, um mindestens eine halbe Stunde. Das Schneetreiben, Sie wissen schon.“
„Aha.“
„Irgendwo bei Gerolstein ist die Strecke blockiert. Sie wird gerade freigeräumt.“
„Ich verstehe.“
„Statt 23:48 Uhr kann es also etwa 0:20 Uhr werden. Oder auch noch später. Wenn ich Genaueres weiß, melde ich mich wieder.“
„Danke.“ Manuela legte den Hörer auf und starrte auf das Schneegestöber draußen vor dem Fenster. Weiße Weihnacht , dachte sie. Was ist daran eigentlich so romantisch? Sie verzog das Gesicht. Was hab' ich daran bisher so romantisch gefunden? Sie trommelte mit den Fäusten gegen die Fensterscheibe. Weiße Scheiße !“, sagte sie laut, obwohl niemand sie hören konnte.
Vor Langeweile hätte Manuela heulen können. Warten, warten, warten, nichts als warten, dachte sie. Oh, lieber Gott, lass' diese Nacht schnell vorübergehen!
23:33 h
„Hier muss es irgendwo sein.“ Dr. Alexander Braun schwenkte den Blick hin und her. Von der linken Straßenseite zur rechten und wieder zurück.
„Ja, dort ist Hausnummer 36..., 38..., 40..., stopp! Wir sind da. Brückenstraße 42.“ Manfred Gerling zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das gesuchte Objekt. Ein schäbiges Gebäude, dachte er, in einer schäbigen Wohngegend.
Auch Alex rümpfte die Nase: „Nicht gerade die erste Adresse“, sagte er zögernd. Dann aber: „Packen wir's an.“ Er parkte seinen roten Porsche Carrera vor dem Haus gegenüber und stellte den Motor ab.
Читать дальше