1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Martin ging zurück ins Bitburger-Fass und fragte Holger, ob er sein Telefon benutzen dürfe. „Ortsgespräch“, fügte er entschuldigend hinzu.
„Meinetwegen“, knurrte der Wirt.
Martin wählte die eigene Nummer und ließ es so lange klingeln, bis der Anrufbeantworter ansprang. Dann legte er auf und probierte es auf Manuelas Handy. Aber auch da meldete sich nur die Mobilbox. Etwas ratlos und unschlüssig starrte er auf den Telefonapparat. Soll ich jetzt noch bei ihren Eltern anrufen?, überlegte er. Nee, lieber nicht.
Dass er seine Freundin nicht erreicht hatte, stellte er fest, machte ihm weniger aus, als es ihm eigentlich ausmachen sollte.
„Hey, was ist, Alter?!“ rief Gunnar durch die offene Tür. „Kommst du nun mit, oder kommst du nun mit?“
Martin dankte Holger mit einem Handzeichen und ging wieder hinaus zu den anderen.
„Du wirst doch jetzt noch nicht nach Hause wollen?“, sagte Gunnar. „Der Abend hat gerade erst begonnen. Stimmt's, Mädels?“
Marion und Kathrin nickten.
Martin wirkte immer noch etwas unschlüssig.
„Selbstverständlich kommst du mit. Los, keine Widerrede!“ Gunnar zupfte am Ärmel von Martins Motorradjacke.
„Und wie sollen wir hinkommen?“, wandte Martin ein. „Wir sind doch alle zu Fuß hier.“
„Ich kann mein Auto holen, wenn ihr wollt. Ich würde euch auch fahren“, sagte Kathrin. „Ich hab' ja nur einen Tee und einen Rotwein getrunken.“
„Super-Idee“, pflichtete Gunnar ihr bei.
„Du musst aber mit mir kommen. Allein will ich nicht im Dunkeln nach Hause gehen.“
„Okay, ich begleite dich“, sagte ihr Bruder. Und an die beiden anderen gewandt: „Ihr zwei Hübschen wartet hier. In spätestens zehn Minuten sind wir wieder da.“
„Beeilt euch!“, rief Martin ihnen nach und zog eine Schnute. „Sonst müssen wir ewig hier in der Eiseskälte 'rumstehen. So ein Scheißwetter aber auch!“ Er stellte den Kragen seiner Lederjacke hoch, zog die Kapuze seines Sweatshirts tiefer ins Gesicht und stampfte abwechselnd mit den Füßen auf. Unter seinen Sohlen knirschte der Schnee.
„Oh, du Armer“, neckte ihn Marion. „Soll ich dich wärmen?“ Sie umschlang Martin von hinten und drückte ihn ganz fest an sich.
„Nein, danke. Es geht schon“, murmelte er und befreite sich aus der Umklammerung.
„Es gab Zeiten, da mochtest du das ganz gerne“, sagte Marion und umschlang ihn erneut. Sie faltete die Hände vor seiner Brust und ließ ihn nicht mehr los. Diesmal leistete Martin keine Gegenwehr.
22:29 h
„Kann ich jetzt gehen, Herr Doktor, oder ist noch was?“ Oberschwester Gertrud streckte den Kopf zur Tür herein. Sie trug schon ihren Mantel über dem Arm und hielt ihre Tasche in der Hand. Offiziell hatte sie seit einer halben Stunde Feierabend. Aber durch die Ereignisse des Abends war es wieder mal später geworden.
„Nein, nein.“ Dr. Alexander Braun schüttelte den Kopf. „Ich wüsste nicht, was Sie noch tun könnten.“ Er selbst musste bleiben. Sein Vierundzwanzig-Stunden-Dienst war erst am nächsten Morgen um acht zu Ende.
Gertrud nickte froh. „Und Schwester Hildegard ist ja da. Für alle Fälle.“ Die Nachtschwester war eine erfahrene Kraft wie sie selbst. Kugelrund zwar und schon leicht ergraut, aber ohne Fehl und Tadel. Sie hatte ihr vollstes Vertrauen.
„Hmhm.“ Alex wollte allein sein. Er musste nachdenken. Die Flucht des Selbstmord-Patienten ging ihm nicht aus dem Sinn. Sie konnte seinen Ruin bedeuten. Wenn dieser Karabük sich umbringt oder sonst etwas anstellt, wusste Alex, dann bin ich dran. Dann lassen sie mich über die Klinge springen. Vielleicht auch Prof. Dombach. Aber zuerst einmal mich. Den jungen Assistenzarzt. Das letzte Glied in der Kette der Verantwortlichkeit. Ein Sündenbock par excellence .
Schwester Ellen denunzieren kam nicht in Frage. Das Pflegepersonal hielt zusammen wie Pech und Schwefel. Er würde sich damit isolieren. Ja, er würde sich nur noch tiefer in die Scheiße reiten.
Es musste eine andere Lösung geben. Aber welche? Dr. Braun holte die Krankenakte von Ahmed Karabük aus der Schublade mit der Aufschrift H – M und setzte sich an seinen Schreibtisch. Den Kopf in die linke Hand gestützt, blätterte er die Akte mit der rechten langsam durch.
Der ausgebüxte Patient war achtundzwanzig Jahre alt, entnahm Alex der Akte, türkischer Staatsangehöriger, verheiratet, ein Kind, wohnhaft im Biedenstädter Vorort Kaldenbach, Brückenstraße 42. Die üblichen Kinderkrankheiten. Bis zu seiner Einlieferung in die Psychiatrische Klinik keine besonderen Hinweise auf eine zerebrale Dysfunktion. Neurosen, Psychosen – Fehlanzeige. Was seine psychiatrische Vorgeschichte anging, war Ahmed Karabük ein unbeschriebenes Blatt. Und doch hatte er einen Suizidversuch unternommen, hatte hier in der Klinik absurde Wahnvorstellungen erkennen lassen sowie deutliche Anzeichen einer schweren Paranoia. Und er war gegen Alex gewalttätig geworden.
Ich hab' den Ernst der Lage unterschätzt, dachte Alex jetzt. Ich hätte den Kerl in die Geschlossene einweisen lassen müssen. Spätestens nachdem er mir an die Gurgel gegangen war und versucht hatte mich zu erwürgen. Die Erinnerung daran jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
Dr. Braun schlug die Akte Karabük wieder zu, stand auf und ging zu dem kleinen Handwaschbecken an der Wand. Darüber hing ein Spiegel. Kritisch betrachtete er darin sein Gesicht. Trotz Sonnenbank wirkte er fast bleich. Seine Haut hatte einen gelblichen Schimmer. Oh, Mann, ich sehe steinalt aus, dachte er und zeichnete mit dem Finger die Ringe unter seinen Augen nach. Diese verdammten Überstunden! Diese Nachtschichten! Diese langen Dienste. Manchmal rund um die Uhr – so wie heute. Und das bei miserabler Bezahlung. Wenn das so weiter geht, halten sie mich bald alle für einen Greis!
Und dabei war Alex doch gerade erst einunddreißig geworden. Eigentlich noch jung. Gutaussehend. Frisch gebackener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Erfolgreich im Beruf, anerkannt im Tennisclub und begehrt bei den Frauen. Das alles sah er jetzt dahinschwinden. Über dem vermeintlichen Sonnyboy brauten sich dunkle Wolken zusammen.
Alex seufzte. Dann drehte er den Wasserhahn auf und hielt sein Gesicht unter den eiskalten Strahl. Das erfrischte. Das tat gut. Das vertrieb die düsteren Gedanken. Zumindest für einen kurzen Moment. Doch rascher als erwartet kehrten sie zurück.
Rasieren müsste ich mich auch mal wieder, dachte er nach einem erneuten Blick in den Spiegel. Mit den dunklen Bartstoppeln fühlte er sich ungepflegt. Wie ein Penner. Er ekelte sich vor sich selbst. Aber für wen soll ich mich schön machen? Für Nachtschwester Hildegard etwa, diese Matrone? Der Gedanke daran amüsierte ihn. Nein, die Rasur hat Zeit bis morgen früh, wenn der lange Dienst endlich vorbei ist.
Alex setzte sich wieder an den Schreibtisch, wollte noch einmal die Akte Karabük aufschlagen, schob sie dann aber doch zur Seite und schaltete stattdessen das Radio ein. Ein kleines Transistorgerät mit ausziehbarer Antenne und grauenhaftem Klang. Aber es war ihm ans Herz gewachsen. Besonders nachts verschaffte es ihm manchmal ein wenig Zerstreuung. Alex wollte sich berieseln lassen, Musik hören, ganz einfach abschalten.
Doch jetzt brachten sie gerade Nachrichten: „...ist ein fünfunddreißigjähriger Taxifahrer getötet worden...“ Alex hörte kaum hin. „...Ein Unbekannter schnitt ihm die Kehle durch und raubte die gesamten Einnahmen. Nach Augenzeugenberichten handelt es sich bei dem flüchtigen Täter um einen Mann im Alter von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, mit dunklen Haaren und südländischem Aussehen...“ Alex wurde jetzt aufmerksamer. „...Die Fahndung nach dem Taximörder läuft auf Hochtouren. Bei sachdienlichen Hinweisen wenden Sie sich bitte an die Polizei in Biedenstadt oder jede andere Polizeidienststelle...“
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