„Selbstverständlich.“
„Wie viele sind es eigentlich?“
„Keine Ahnung. Ich hab' sie nicht gezählt. Aber wir beschränken uns erst mal auf diejenigen, die in der Nähe wohnen. Die Telefonnummern in der Türkei heben wir uns bis zum Schluss auf. So weit kann Karabük ja noch nicht gekommen sein.“ Alex grinste und griff mit der rechten Hand zum Hörer.
In diesem Moment spürte er ein Vibrieren an seiner Brust. Er legte das Adressbuch zur Seite, ließ den Telefonhörer fallen und fischte das Handy aus der Innentasche seines Mantels. Das wird Nadja sein, dachte er, sein momentan heißestes Eisen im Feuer. „Mist! Warum ausgerechnet jetzt?“, fluchte er deshalb und war schon versucht das Gespräch wegzudrücken. Da erkannte er die Nummer der Klinik auf dem Display. „Hallooo?“, sagte er gedehnt.
„Herr Doktor, wo sind Sie denn bloß?“ Es war Nachtschwester Hildegard. „Prof. Dombach hat angerufen. Er wollte sie dringend sprechen. Wegen diesem Patienten aus Zimmer 115. Ob sie schon was gehört hätten.“
Ach, du Scheiße, dachte Alex. „Was haben Sie zu ihm gesagt?“
„Nichts. Nur dass Sie nicht ans Telefon kommen könnten.“
Er atmete auf. Die Solidarität, die unter dem Krankenhauspersonal herrschte, war einfach phänomenal. Sogar ihn, den Assistenzarzt, schloss sie mit ein. Trotzdem, überlegte er, wenn Dombach noch mal anruft, bin ich geliefert. „Haben Sie vielen Dank, Schwester Hildegard. Ich komme sofort zurück.“ Er unterbrach die Verbindung und wandte sich Manfred Gerling zu: „Kommen Sie. Wir verschwinden von hier. Auf dem schnellsten Weg.“ Er steckte sein Handy weg und hatte schon die Türklinke in der Hand, da drehte er sich noch einmal um. „Aber das Adressbuch, das nehmen wir mit.“
00:09 h
„Komm' das ist ein geiles Lied. Lass' uns tanzen!“ Kathrin Dombach zupfte ihren Bruder am Ärmel.
„Gute Idee.“ Gunnar drückte seine Zigarette aus und folgte Kathrin auf die Tanzfläche. Im Gehen gestikulierte er noch mit den Armen. Er wollte Martin und Marion zum Mitkommen auffordern. Doch zumindest Martin schenkte ihm keine Beachtung. Er stand an eine Säule gelehnt, vor einem Bistro-Tischchen, in der einen Hand ein halbleeres Bierglas, in der anderen eine heruntergebrannte Zigarette, und wirkte geistesabwesend.
„Ich würde auch gerne tanzen“, machte Marion einen zaghaften Versuch. Aber Martin reagierte nicht. Er schien völlig fasziniert. Das Wirrwarr aus menschlichen Körpern, die sich in wilder Ekstase vor seinen Augen hin und her bewegten, fesselte scheinbar seine ganze Aufmerksamkeit.
In Wirklichkeit nahm Martin kaum wahr, was um ihn herum vorging. Er fühlte sich wie zugedröhnt. Nicht nur wegen des Alkohols. Das Blitzen der Scheinwerfer, das Stampfen der Musik und das Brüllen der Leute um ihn herum. Dieser Cocktail von Reizen übte keine stimulierende, sondern eine narkotisierende Wirkung auf ihn aus.
„Was ist, Martin?“ Marion stupste ihn in die Seite.
„Wie bitte?“ Er kehrte nur langsam in die Realität zurück.
„Ich will tanzen.“
„Dann geh' doch.“
„Du sollst mitkommen.“
„Warum?“
„Weil ich nicht gern allein tanze.“
Martin zog eine Grimasse.
„Was ist eigentlich los mit dir?“
„Was soll mit mir los sein?“ Er leerte sein Glas.
„ Nichts ist mit dir los. Du stehst nur herum und schweigst dich aus. Ich dachte, wir machen uns einen netten Abend.“
„Ist doch sehr nett hier.“
„So hab' ich das nicht gemeint.“
„Wie denn sonst?“
„Oh, Mann!“ Marion fehlten die Worte. Am liebsten hätte sie ihn kräftig durchgerüttelt.
„Ich hol' uns noch was zu trinken.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, bahnte er sich einen Weg zum Tresen.
Es war rappelvoll im Hard & Soul . Die Gäste standen dicht an dicht. Kaum einer machte freiwillig Platz, als Martin den Rückweg antrat. Er balancierte die vollen Gläser in Kopfhöhe durch die Menge. Nur mit Mühe konnte er verhindern, dass das Bier überschwappte. Als er endlich seine Säule erreicht hatte, war Marion weg.
Eine Weile stand Martin herum und starrte wieder geistesabwesend ins Leere, da tippte ihm jemand von hinten an die Schulter. Irritiert wandte er sich um und blickte in ein bekanntes Gesicht. Es war Biggi, Manuelas beste Freundin.
„Hi, Martin“, sagte sie. „Bist du alleine hier?“
„Nee“, antwortete er kurz angebunden.
„Wo ist Manu denn?“ Sie reckte suchend den Kopf.
„Keine Ahnung. Zu Hause vermutlich.“
„Aha.“ Biggi schaute ihn forschend an. „Hab' ich da was verpasst? Seid ihr nicht mehr zusammen?“
„Doch, natürlich“, antwortete Martin unwirsch. „Du hast nichts verpasst.“
In diesem Moment kam Marion zurück. „Entschuldige“, sagte sie. „Ich hab' mich nur kurz frischgemacht.“ Erst jetzt registrierte sie die Anwesenheit von Biggi. „Oh, wie ich sehe, hast du inzwischen andere Gesellschaft gefunden“, sagte sie spitz.
„Das ist Biggi“, stellte Martin gelangweilt vor. „Biggi, das ist Marion.“
„Wir sind uns schon mal begegnet“, erwiderte Marion, nicht weniger spitz.
Sekundenlang herrschte unangenehmes Schweigen. Biggi brach es als erste: „Ich muss dann mal wieder“, sagte sie und warf Martin noch einmal einen forschenden Blick zu. Jetzt ist mir alles klar, schien er zu sagen.
00:14 h
„So, mein Schatz, gleich sind wir daheim. Dann kannst du dich endlich in dein warmes Bettchen legen.“ Renan Karabük fühlte sich mit jedem Schritt besser, der sie ihrer Wohnung näher brachte. Auch Bülent hielt sich tapfer.
„Schau' mal, da ist schon unser Haus“, sagte seine Mutter. „Da vorne, wo gerade die beiden Männer herauskommen.“
Ein junger schlanker und ein etwas älterer breitschultriger Mann stiegen in das Auto, das gegenüber vom Hauseingang geparkt war. Wahrscheinlich hatten die Nachbarn Besuch, dachte Renan und schenkte den beiden keine weitere Beachtung. Sie schloss die Haustür auf und scheuchte Bülent die Treppe hinauf.
Erst als sie ihre Wohnung betrat, wurde sie stutzig. Der Telefonhörer. Er war nicht aufgelegt. Renan erschrak. Ahmed ist zu Hause, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie drückte Bülents Hand fester und wäre fast wieder umgekehrt. Aber dann besann sie sich rasch. Nein, nicht wieder hinaus in die Kälte, dachte sie. Ich muss mich dem Problem stellen. Ich muss mich Ahmed stellen.
Renan rief laut den Namen ihres Mannes. Keine Antwort. Vielleicht ist er eingeschlafen, dachte sie und machte vorsichtig die Schlafzimmertür auf. Doch im schwachen Schein des hereinfallenden Lichts konnte sie bereits erkennen, dass sein Bett leer war. Deshalb schloss sie die Tür wieder und warf einen Blick in die Wohnküche. Auch da kein Ahmed. Zuletzt schaute sie ins Bad. Beim Öffnen der Tür hielt sie die Luft an. Die grauenhafte Szene nach Ahmeds Selbstmordversuch kam ihr wieder in den Sinn. Aber diesmal blieb ihr ein solcher Anblick erspart. Auch das Badezimmer war leer.
„Allah ist groß“, sagte Renan laut und ließ sich erst mal erleichtert auf einen Stuhl sinken.
„Mama, was hast du?“ wunderte sich ihr Sohn.
„Alles in Ordnung, mein Schatz. Wir zwei gehen jetzt schlafen. Und morgen früh bist du wieder gesund.“
Bülent protestierte nicht. Dazu war er viel zu erschöpft. Willig ließ er sich von seiner Mutter ins Bett bringen und zudecken. Er duldete sogar widerspruchslos, dass sie ihm eine übelriechende Arznei gegen sein Fieber einflößte. Noch bevor Renan das Licht im Kinderzimmer löschen konnte, war der Kleine bereits eingenickt.
Seine Mutter wollte sich vor dem Schlafengehen noch einen Tee machen. Auf dem Weg in die Küche fiel ihr wieder der Telefonhörer auf. Er baumelte immer noch herum. Sie hatte ihn ganz vergessen. Ahmed muss hier gewesen sein, dachte sie.
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