„Ja, Chef.“ Der junge Kriminalobermeister durchwühlte das Handschuhfach seines Dienstwagens. Eine Minute später kehrte er mit dem gesuchten Objekt zu den beiden Kommissaren zurück. „Hier, Chef.“
Rohde faltete den Stadtplan umständlich auseinander und breitete ihn auf dem Kofferraumdeckel aus. Zu dritt beugten sie sich darüber. Der Schein einer Straßenlaterne lieferte das nötige Licht. „Zuerst die Luisenstraße... Hier!“ Rohde fuhr sie mit dem Finger nach, bis er auf den Kolpingweg stieß. „Das ist sie, die Ecke, wo der Kerl ins Taxi gestiegen ist.“
„Ganz in der Nähe von der Klapsmühle“, bemerkte Dirty Harry beiläufig. Als waschechter Biedenstädter kannte er sich bestens aus.
„Sie meinen die Psychiatrische Klinik?“, fragte Kommissar Kroetz stirnrunzelnd.
„Ja, genau. Die Klapsmühle.“ Schäfer dachte gar nicht daran, seine Ausdrucksweise zu korrigieren.
„Mensch, Ernst“, sagte Kroetz, „das wäre eine Möglichkeit.“
„Du meinst...?“
„Ja, es könnte doch einer von dort sein.“
„Ein Patient? Ausgeschlossen.“ Rohde winkte ab. „Wenn wieder einer ausgebrochen wäre, hätten die das doch längst gemeldet.“
„Da hast du auch wieder Recht.“ Paul Kroetz verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war.
Schäfer zuckte die Achseln und zündete sich eine Zigarette an. Die Herren Kommissare mussten es ja wissen...
„Jetzt noch die Brückenstraße in Kaldenbach“, murmelte Ernst Rohde und brütete schon wieder über dem Stadtplan. Sein Partner leistete ihm Hilfestellung. Nur Harry Schäfer stand teilnahmslos daneben und rauchte. Experten unter sich, dachte er amüsiert. Ein kleiner Beamter wie ich darf sich da nicht einmischen...
„Hier haben wir sie“, sagte sein Chef nach einer kleinen Ewigkeit. „Brückenstraße... Brückenstraße... Klingelt da irgendwas bei dir, Paul?“
Kroetz überlegte. „Nee, keine Ahnung.“
„Ich kann mir im Moment auch keinen Reim darauf machen“, gab Rohde zu, „aber irgendwo hab' ich den Namen schon mal aufgeschnappt. Es ist erst ein paar Tage her, glaub' ich. Ich weiß nur nicht mehr in welchem Zusammenhang...“
„Vielleicht fällt es dir ja noch ein“, meinte sein Partner. „Wobei...“ Kroetz zögerte eine Sekunde.
„Was ist, Paul?“
„Möglicherweise hat die Brückenstraße in unserem Fall überhaupt keine Bedeutung.“
„Wie meinst du das?“
„Der Mörder könnte absichtlich ein falsches Fahrtziel angegeben haben, um uns in die Irre zu führen.“
„Mhmm.“
„Warum sonst hat er den Taxifahrer hier in der Lindenallee ermordet und ist dann zu Fuß getürmt – mindestens vier Kilometer von Kaldenbach entfernt?“
„Mhmm“, machte der Hauptkommissar wieder und kratzte sich am Kopf. „Da ist was dran.“
Doch bevor Rohde in neue Grübeleien verfallen konnte, wechselte sein Partner schnell das Thema. „Jetzt lass' uns erst mal zum Büro zurückfahren, Ernst. Ich brauche dringend einen heißen Kaffee. Hier draußen werde ich noch zum Eiszapfen. Und müde bin ich auch. Du etwa nicht?“
„Na schön“, lenkte Ernst Rohde ein. „Hier am Tatort gibt es momentan sowieso nichts mehr für uns zu tun.“ Er drückte Kriminalobermeister Schäfer den Stadtplan in die Hand: „Packen Sie das Ding wieder ein. Vielleicht brauchen wir es noch mal.“
Harry Schäfer warf seine Kippe weg und fragte: „Wie sieht's aus, Chef, kann ich dann Feierabend machen?“
„Feierabend?“ Rohde schaute den jungen Beamten an, als sähe er einen Marsmenschen vor sich. „Sind Sie noch bei Trost, Schäfer? Hier macht keiner Feierabend, bevor wir diesen Mörder erwischt haben!“
00:06 h
„Na los, Manfred! Beeilen Sie sich doch mal!“ Dr. Alexander Braun wurde langsam ungeduldig. „Wir können nicht ewig hier drin bleiben.“
Seit fast einer halben Stunde durchstöberten sie die Wohnung von Ahmed Karabük. Bisher hatten sie keinen Hinweis darauf gefunden, wo sich der geflohene Patient und mutmaßliche Taximörder verstecken könnte. Aber es sah ganz so aus, als hätte er seine Familie mitgenommen.
Die Tatsache, dass sie nur eine Taschenlampe hatten, machte ihnen die Aufgabe nicht leichter. Natürlich hätten sie das Deckenlicht einschalten können, aber sie wollten nicht gesehen werden. Es hingen keine Gardinen vor den Fenstern. Jeder im Haus gegenüber könnte sie beobachten, hatte Alex zu bedenken gegeben.
Der Leidtragende war Pfleger Manfred Gerling. Denn der Doktor selbst hielt sich vornehm zurück. Als ausführendes Organ hatte er schließlich einen Gehilfen mitgebracht. Seinen persönlichen Part sah Alex im Erteilen von strikten Anweisungen und klugen Ratschlägen. Und als ob das noch nicht genug wäre für einen Mann seines Ranges, bezog er Horchposten an der Wohnungstür.
Manfred klappte einen Schrank nach dem anderen auf, durchwühlte Schublade um Schublade. Er bemühte sich dabei äußerst sorgfältig vorzugehen und alles wieder so anzuordnen, wie er es vorgefunden hatte. Keiner sollte später bemerken, dass die Wohnung durchsucht worden war.
Er stieß allerdings nur auf Trödel und Plunder. Suchen Sie nach persönlichen Dingen, hatte Dr. Braun gesagt. Dinge, die etwas über ihren Eigentümer aussagen: Papiere, Dokumente, Fotos, Notizen, irgendwas eben. Und Manfred suchte und suchte. Aber er fand nichts.
„Das hat doch alles keinen Sinn, Herr Doktor“, resignierte er schließlich. „Lassen Sie uns auf dem schnellsten Weg von hier verschwinden.“
„Damit die ganze Aktion umsonst war? Sie sind wohl verrückt? Nein, wir bleiben so lange, bis wir etwas entdeckt haben. Sie müssen sich eben mehr Mühe geben, Mann.“
Aber der Pfleger mit dem buschigen Schnurrbart hatte jetzt endgültig die Nase voll: „Suchen Sie doch selbst weiter.“ Er war gerade damit beschäftigt gewesen, die Tischschublade in der Wohnküche zu durchwühlen. Jetzt brach er die Aktion mittendrin ab und hielt Alex Braun die Taschenlampe hin. „ Ich gehe.“
„Nun warten Sie doch mal. Nicht so hastig.“ Alex griff nach der Taschenlampe. „Okay, okay. Jetzt übernehme ich das Suchen. Sie bewachen die Tür.“
„Meinetwegen.“
Alex machte erst einmal in der Küche weiter, hielt sich aber nicht lange damit auf und wanderte dann schnurstracks ins Schlafzimmer. Sein unfreiwilliger Komplize wartete so lange im Flur.
Schon nach einer Minute kehrte der Doktor mit triumphierendem Lächeln zurück. Er schwenkte ein Büchlein in der Hand und sagte: „Sehen Sie, Manfred, was ich hier habe? Das ist ein Adressbuch. Es steckte in einem von Karabüks Jacketts, die im Kleiderschrank hängen. Haben Sie dort eigentlich nicht nachgesehen?“
„Ich kann ja nicht überall gleichzeitig suchen.“
„Ich glaube, Ihnen fehlt einfach der kriminalistische Spürsinn.“
„So, meinen Sie?“ Auf derlei Belehrungen hatte Manfred gerade noch gewartet. Aber er verkniff sich jeden Kommentar.
„In diesem Büchlein steht ein ganzer Haufen von Adressen und Telefonnummern“, stellte Alex beim Durchblättern fest. „Die rufen wir jetzt der Reihe nach an.“
„Wie bitte?“
„Na, logisch“, sagte der Doktor.
„Und wozu soll das gut sein?“
„Ich wette, Karabük ist mit seiner Familie bei Verwandten oder Bekannten untergetaucht. Wohin sollte er sonst gehen?“
„Das mag ja sein, aber seine Verwandten werden ihn bestimmt nicht verpfeifen.“
„Sie dürfen nicht vergessen, dass ich psychologisch geschult bin. Ich merke es sofort, wenn mich einer anlügt.“
„Ich will Ihre Qualifikation nicht in Frage stellen, aber...“
„Außerdem“, schob Alex nach, „wer lebt schon gerne unter einem Dach mit einem Geisteskranken?“
Von diesem Argument ließ sich der Pfleger überzeugen. Er hatte schließlich lange genug in der Psychiatrischen Klinik gearbeitet. Nein, keinen einzigen seiner Patienten würde Manfred Gerling mit nach Hause nehmen. Und dieser Karabük war keiner von den harmlosen Irren. Er war eine unberechenbare Zeitbombe. Das hatte ihm Dr. Braun inzwischen klar gemacht. Ob er wirklich diesen Taxifahrer getötet hat?, fragte sich Manfred. Er kannte Karabük nicht und konnte ihn nicht einschätzen. Dr. Braun jedenfalls schien die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen „Okay“, sagte er deshalb, „aber Sie rufen die Leute an. Ich halt' mich da 'raus.“
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