Manfred stieg als erster aus und sah sich vorsichtig um. Die Brückenstraße war wie ausgestorben. Nur wenige Laternen brannten. Ohne die Reflexion des Schnees wäre es stockfinster gewesen.
Der junge Doktor trat hinter den schnauzbärtigen Pfleger und raunte ihm zu: „Los, probieren Sie, ob die Haustür offen ist.“
Manfred wunderte sich, warum Dr. Braun es nicht selbst probierte, sagte aber nichts, sondern tat wie geheißen. Er drückte die Klinke nach unten und versetzte der Tür mit der anderen Hand einen kräftigen Stoß. Sie leistete keinen Widerstand.
„Nicht abgeschlossen“, stellte Alex fest. „Los, gehen Sie vor.“
Manfred trat in den Hausflur und suchte nach dem Lichtschalter. Doch Alex fiel ihm in den Arm. „Nein! Kein Licht. Sonst sieht uns noch jemand.“
„Wie wollen wir denn im Dunkeln die Wohnung von Herrn Karabük finden?“, flüsterte Manfred.
„Warten Sie. Ich hab' eine Taschenlampe im Auto.“ Alex Braun öffnete leise die Haustür und huschte wieder auf die Straße hinaus.
Nach einer Minute kam er zurück: „Hier nehmen Sie. Da vorne ist die Treppe. Wir schleichen uns nach oben und überprüfen die Namensschilder an den Wohnungstüren.
Manfred Gerling ergriff die Taschenlampe und marschierte voran. Unter der Last seiner gut neunzig Kilo knarrte die Holztreppe bedenklich.
„Schschscht!“, zischte Alex. „Seien Sie doch leise, Mann.“
Manfred gab keine Antwort und stieg weiter Stufe für Stufe hinauf, bis er die erste Etage erreicht hatte. Der Strahl der Taschenlampe fand das Türschild der Wohnung zu ihrer Rechten: Moussadi war darauf zu lesen.
„Weiter!“, befahl Alex.
Markovic stand auf dem Türschild zu ihrer Linken. Der Doktor packte Manfred am Arm und schob ihn vorwärts. „Auf geht’s, nächste Etage“, flüsterte er.
Aber auch im zweiten Stock hatten sie kein Glück. Erst im dritten huschte plötzlich ein Lächeln über das Gesicht des jungen Assistenzarztes. „ Karabük !“, sagte er triumphierend. „Hier sind wir richtig.“
Manfred nickte. „Und was jetzt?“
„Drücken Sie auf den Klingelknopf.“
Manfred drückte.
Alex wartete ungeduldig.
„Es scheint niemand daheim zu sein“, sagte Manfred nach einer Weile und runzelte die Stirn.
„Verdammt!“, fluchte Alex. „Versuchen Sie es noch mal. Und drücken Sie diesmal länger. Vielleicht schlafen sie schon.“
Manfred tat wieder, wie ihm geheißen. Mit dem gleichen Resultat. „Keiner da“, stellte er trocken fest.
„Oder die stellen sich taub. Horchen Sie doch mal.“
Manfred legte weisungsgemäß sein Ohr an die Tür und lauschte. Nichts war zu hören. Nicht das geringste Geräusch.
„Kriegen Sie die auf?“, fragte Alex beiläufig und deutete mit dem Zeigefinger auf die Wohnungstür.
„Na ja“, überlegte Manfred, „mit einer Scheckkarte vielleicht. Wenn sie nicht von innen verriegelt ist...“ Plötzlich erschrak er. „Sie wollen doch nicht etwa...?“
„Los, stellen Sie sich nicht so an.“
„Aber ich bin doch kein Einbrecher!“
„Was heißt hier Einbrecher? Sie haben wohl noch nie etwas von Güterabwägung gehört?“
„Wieso? Was meinen Sie damit?“
„Wenn wir damit einen Mord verhindern können, ist es völlig legitim, eine fremde Wohnung zu betreten.“
„Mord? Wieso Mord?“ Manfred schaute verdattert aus. Er verstand überhaupt nichts mehr.
„Das erkläre ich Ihnen, wenn wir drin sind“, zischte Alex Braun. „Nun zücken Sie schon Ihre Scheckkarte und machen Sie die verdammte Tür auf.“
Manfred wollte protestieren, aber als er das zornige Blitzen in Alex' Augen sah, gab er seinen Widerstand auf. Er fischte die Scheckkarte aus seiner Geldbörse und steckte sie in den schmalen Schlitz zwischen Zarge und Tür.
Beide Männer hielten kurz den Atem an. Dann schnappte das Schloss zurück, die Tür sprang auf.
Manfred Gerling schaute den Doktor noch einmal zweifelnd an, aber der gab ihm einen Schubs. Und ehe er sich versah, stand er in der Wohnung von Ahmed Karabük, zusammen mit Dr. Braun.
Es war stockduster. Manfred ließ den Strahl der Taschenlampe ziellos hin und her wandern. „Wonach suchen wir eigentlich?“
„Keine Ahnung“, antwortete Alex. „Aber irgendwas werden wir schon finden.“
23:50 h
„Mama.“ Bülents Stimme klang dünn und weinerlich.
„Ja, mein Schatz.“
„Warum kommt der Zug nicht?“
„Ich weiß es nicht.“ Renan Karabük schaute ihren Sohn hilflos an. „Er müsste bald da sein.“ Sie war selbst der Verzweiflung nahe. Mehr noch als die Angst zehrte mittlerweile die Kälte an ihren Nerven.
Mehrfach hatte sie ihren Platz auf der Bank verlassen, war auf und ab gegangen, um sich etwas Bewegung zu verschaffen. Doch die Kälte wollte nicht aus ihren Gliedern weichen. Sie fror erbärmlich. Wie das Wetter jetzt wohl in der Türkei sein mag?, überlegte sie. Im Hochland von Anatolien gibt es auch strenge Winter. Aber solche Schneemassen? Das hatte sie dort noch nicht erlebt.
Wieder legte sie die Hand auf Bülents Stirn. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, dachte Renan, aber sie fühlt sich immer heißer an. Das Fieber steigt. Wenn der Zug nicht bald kommt, wird Bülent ernsthaft krank. Das darf ich nicht zulassen!
Wenn sie nur jemanden um Auskunft bitten könnte. Aber es gab kein Personal auf der kleinen Vorortstation in Kaldenbach. Und es waren auch keine anderen Reisenden zu sehen.
Renan setzte dem Zug eine letzte Frist von fünf Minuten. „Wenn er bis Mitternacht nicht da ist“, versuchte sie Bülent zu trösten, „gehen wir wieder nach Hause.“
„Ist Papa dann auch wieder daheim?“
Hoffentlich nicht, dachte Renan. Aber eigentlich war es ihr jetzt gleichgültig. Die Kälte hatte ihren Widerstand gebrochen. Auf keinen Fall wollte sie noch länger hier draußen ausharren. Da erschien ihr Ahmed beinahe als das kleinere Übel.
„Sag', ist Papa dann auch wieder daheim?“, wiederholte Bülent und riss seine Mutter aus ihren trüben Gedanken.
„Vielleicht“, sagte sie nur und blickte gebannt auf den großen Zeiger der Bahnhofsuhr. Jeden Moment würde er auf die Zwölf umspringen. Sie trat an die Bahnsteigkante und schaute an den Schienen entlang in die Dunkelheit hinein.
„Kommt er?“, fragte Bülent hoffnungsvoll.
Aber noch immer war weder ein Zug zu sehen noch zu hören. „Nein, mein Kleiner“, antwortete Renan deprimiert. „Es sieht nicht so aus.“
„Schade“, meinte Bülent nur.
„Ja, das ist schade.“
Als die selbst gesetzte Frist endlich abgelaufen war, nahm Renan ihren Sohn und ihr Köfferchen und machte sich auf den Heimweg. Allein die Vorfreude auf die warme Wohnung beschleunigte ihren Schritt. Sogar der kleine Bülent war auf einmal wieder putzmunter. Noch zehn Minuten, dachte Renan, dann haben wir es geschafft.
25.12.2001
00:03 h
„Warte mal, Ernst! Ich hab' interessante Neuigkeiten.“
Hauptkommissar Rohde drehte sich um. Er wollte gerade in seinen Wagen steigen und zum Revier zurückfahren. Da kam sein Partner Paul Kroetz auf ihn zu gerannt. „Was gibt’s denn? Warst du bei der Taxizentrale?“
„Ja“, keuchte Oberkommissar Kroetz. Sein Übergewicht machte ihm hörbar zu schaffen.
„Und?“
„Die haben das Funkgespräch aufgezeichnet.“
„Von Mustafa Agouni?“
„Ja. Er hat seinen letzten Fahrgast in der Luisenstraße/Ecke Kolpingweg aufgenommen und sollte ihn in die Brückenstraße nach Kaldenbach bringen. Eine genaue Adresse wurde nicht genannt.“
„Na, immerhin“, sagte der Hauptkommissar anerkennend. Dann zitierte er Harry Schäfer herbei. „Besorgen Sie uns mal einen Stadtplan. Schnell!“
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