Er dachte an diesen einflussreichen Mann. Ja, dieser angesehene Mann vom noblen Steinbergviertel, reich, gut verheiratet, gesellschaftlich respektiert, mit dem er auf einem Parkplatz bei Seeheim Homosex gehabt hatte. Seine Frau würde ganz sicher schwören, dass ihr Mann nicht schwul wäre und so etwas „Abscheuliches“ nicht mal im Traum tun würde. Er wäre sicher der Erste, der die Leute, die so etwas taten, als Abschaum der Gesellschaft verdammen und als schlechtes Beispiel für die Kinder und die Moral verurteilen würde. Oh, ja, die scheinheilige Welt, schmunzelte Johnny.
Wie viele Menschen haben die Chance und die Gelegenheit und den Mut diese perverse Seite, ihre Fantasien, zu erleben? fragte er sich.
Wo würde Lina wieder einen treffen wie ihn, der auch wegen seiner Vergangenheit nicht ganz normal war, und alles das mit ihr machte? Sie tat ihm auch leid. Lina war auf eine andere Art wie Melissa, dachte er. Wie würde sie in Zukunft ihre Fantasien ausleben? Mit wem denn?
Er erinnerte sich auch an Asifa. Ja, das war wieder so eine Geschichte, als ob sogenannte Perversität nur anderen gehörte. Er hätte das bei ihr wirklich nicht gedacht. Er hatte nicht gewusst, angesichts der propagierten strengen, moralischen Gesänge, die aus dieser Ecke kamen, dass so eine Frau so etwas auch nur fühlen konnte und durfte. Diese arabische Frau, mit Schwulensexfantasien, die er über eine Anzeige im Internet kennengelernt hatte, war eine der schlimmsten Sexgefährtinnen. Ihre Fantasien erstaunten ihn und mit ihr wurde er endgültig davon überzeugt, dass sexuelle Fantasien und auch die schlimmsten sogenannten Perversitäten zu allen Hautfarben, allen Religionen und allen Gesellschaftsteilen gehören. Die Gefahr war permanent da. Sie wusste als Moslem, dass, wenn ihr Mann das erfahren würde, die Konsequenzen immens wären. Sie sagte dazu nur: „Klar weiß ich das, aber glaubst du, die Religion tötet die Gefühle und die Fantasien?“
Ja, Fantasien haben alle, aber diese ausleben dürfen oder können nur wenige. Ja, alles das, was man erfuhr, wenn man, wie er, kaputt war, amüsierte ihn.
Er erinnerte sich an sein scheiß Leben in der Gundolfstraße in Darmstadt, an Joggen um den Woog, an ekelhafte Sextreffen auf Parkplätzen mit anderen Männern, damals die einzige Möglichkeit für ihn, einen Orgasmus zu haben ohne zu töten. Er erinnerte sich an den Badesee am Woog, den Sportplatz von der TSG 46, seine Einkäufe im Netto-Lebensmittelmarkt. Er erinnerte sich an seine Zweifel, seine Tränen und lachte nun stolz darüber.
Er erinnerte sich an alle diese Opfer, die alle sterben mussten, damit er, Johnny, sich wieder finden konnte. Er verstand selbst nicht so ganz, warum die deutsche Polizei nicht schon früher auf ihn aufmerksam geworden war. Bei dem letzten Mord hatte er einen gravierenden Fehler gemacht, der normalerweise daraufhin gedeutet hätte, dass er in Darmstadt und am Woog lebte oder zumindest, dass er einen Bezug zum Woog hatte. Auch wenn nicht alles immer schön war, auch wenn er in Darmstadt mehr traurig als glücklich gewesen war, wollte er nichts mehr ausblenden. Er wollte nie mehr seine Vergangenheit ignorieren. Er war nun stark genug, um nicht nur damit zu leben, sondern glücklich damit zu leben.
Letztendlich erinnerte er sich an diese verschiedenen Persönlichkeiten in ihm, die ihm das Leben schwer machten. Ein paar Auszüge von Selbstgesprächen mit seinen verschiedenen Persönlichkeiten kamen ihm in den Sinn:
„Ich muss mir helfen lassen. Ich muss etwas dagegen tun. Ich will nicht mehr morden. Ich werde nicht mehr morden“, schimpfte er.
„Ha ja, das sagst du jedes Mal“, antwortete eine Stimme in ihm.
„Ja, aber ich weiß nicht, was ich tun soll, siehst du nicht, dass es mir schlecht geht? Ich will es nicht mehr“, antwortete er.
„Doch, du wirst es immer tun, du bist ein böser Mensch, du wertloser Hund“, sagte eine zweite Stimme, die er den Rebell nannte.
„Warum tust du mir so was an? Ich bin derjenige, der später damit konfrontiert ist, ganz allein“, erwiderte er.
„Johnny, du bist nicht böse, du solltest ihn schnell anrufen, du musst Hilfe suchen“, sagte wieder die erste Stimme, die er Engel nannte.
„Aber das habe ich getan. Er ruft mich doch nicht einmal zurück“, sagte er weinerlich.
„Du musst ihn wieder anrufen, immer und immer wieder probieren“, sagte diese Engel-Stimme.
oder
„Du musst es tun, du wertloses Kind, du musst dich revanchieren. Niemand liebt dich, sogar dein Penis nicht. Geh und tu es noch brutaler. Du böser Junge!“
„Ja, ich werde es tun, ich werde es tun, noch brutaler, ich böser Junge werde das tun!“
oder
„Warum weinst du denn? Ha ha ha, schlechtes Gewissen? Was dachtest du denn? Dachtest du, dass es sich lohnt, böse zu sein? Jetzt merkst du, wie ekelhaft du bist. Siehst du, warum ich dich böses Kind nenne? Was hast du getan? Wehrlose Menschen umgebracht? Schäm dich. Ha ha ha willst du dich wirklich schämen? Du Aasfresser.“
Oder
„Du brauchst Blut, du Kirchenratte, du musst töten. Du warst gestern zu feige um es zu tun. Und jetzt brauchst du eine Leiche. Du brauchst Blut“, sagte der Rebell in ihm.
Er ging hin und her in der Wohnung, wie ein Irrer und redete mit sich selbst.
„Nein, ich will nicht töten, nein, ich will nicht töten.“
„Doch, doch, hättest du sie gestern umgebracht, würde es dir heute besser gehen und du hättest deinen Orgasmus oder willst du zu diesem Parkplatz gehen und dich ficken lassen? Geh doch, Schurke, und lasse dich gehen, wie du es gewohnt bist. Lass dich erniedrigen, wie du es immer gemacht hast. Das hat dir doch immer gefallen. Warum stehst du nicht dazu? Aber auch dort wird dir nichts helfen. Du bist geboren worden, um benutzt zu werden und das Töten ist dein Verhängnis, es ist das Urteil über einen Hund wie dich. Sogar wilde Hunde töten nur, um sich zu verteidigen oder wenn sie Hunger haben. Du, du tötest wegen deiner gestörten Libido, ist das nicht erbärmlich?“, fragte der Rebell.
„Nein, ich will nicht töten. Hilf mir doch. Sag doch was. Sag mir doch was. Warum bist du oft still, wenn ich dich brauche? Warum bleibst du ruhig, wenn er mich quält? Du weißt doch, dass ich kein böser Junge bin, oder? Ich bin doch gut. Ich bin doch gut. Ich bin ein guter Junge. Wiederholte ich das bitte? Wo bist du denn? Wo versteckst du dich denn? Warum lässt du mich allein mit ihm?“, redete er zu der Stimme in sich, die er Engel nannte.
Er sagte nun ganz glücklich zu sich: „Der Rebell wird nie mehr reden. Er ist weg, für immer weg und die Engel?“
Und um wirklich ganz mit der Vergangenheit abzuschließen, dachte er noch einmal an Catherine, die schwarze Afrikanerin. „Ich wollte sie nicht töten“, jammerte er ein bisschen, „ich habe sie wirklich geliebt und ich habe in ihren Augen gesehen, dass sie mich auch mochte. Ich wollte unbedingt bei ihr kommen. Es war so schön mit ihr. Ich spürte das erste Mal in meinem Leben eine Frau, einfach eine Frau. Der scheiß Orgasmus wollte aber nicht kommen. Ich wollte unbedingt, aber er kam nicht und ich drückte und drückte und auf einmal war sie tot. Gott, verzeihe mir für sie. Ihre Seele möge jetzt Ruhe bei dir finden“, trauerte er still und schüttelte den Kopf hin und her. Sie war die einzige Ermordete, bei der er Mitgefühl gezeigt hatte.
Nun nahm er das Buch seiner Mutter aus seiner Aktentasche und las es weiter. Aber auch diesmal las er es nicht bis zum Ende. Was er gelesen hatte reichte ihm erst einmal.
Warum hatte sie nie geredet? Warum die ganze Zeit so etwas mit sich getragen? dachte er erstaunt. Nun verstand er, warum sie nicht interveniert hatte, als er das Auto von Philip zerstörte, warum sie den Bruder nicht gerufen hatte und warum sie leise, ohne ihre Miene zu verziehen glücklich gewesen war, dass er das Buch gefunden hatte. So hatte sie sich selbst für ihr Benehmen mir gegenüber versöhnen wollen, dachte er. Sie wollte ihr Gewissen reinwaschen.
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