„Ja, wenn ich gewusst hätte, dass diese Lehre mich Jahre später stärken würde, hätte ich damals noch mehr Fragen gestellt. Danke, Richard Thompson, egal, wo du jetzt bist und was du machst, Gott segne dich“, sagte Johnny nun leise.
Er hatte selbst genug an seinem Kreuz tragen müssen, nun war sie dran. Sie kann nicht verschont davonkommen. Es war soweit, meinte er. Bevor er das Paket mit den in dickes Plastik mit Aluminiumschicht doppelt-eingeschweißten, noch gefrorenen Geschlechtsteilen seines Vaters und seines Halbbruders, die er aus Deutschland mitgebracht hatte, zuklebte, steckte er noch einen kurzen Text hinein. „ Danke dafür, dass du immer für mich da warst und mich geschützt hast als sie, deine Lieblinge, wie du sie nanntest, mich jeden Tag fickten, missbrauchten und misshandelten. Danke, es geht mir jetzt gut. “ Er schrieb die Adresse auf das Paket: Margot Mackebrandt-Walker, XXXXstraße, 6xxxx Heidelberg, Germany.
Er erinnerte sich wieder an die Szene seines stummen Abschieds von seiner Mutter vor circa 3 Wochen am 13. Januar in der Gutenbergstraße in Heidelberg. Alles erschien vor seinem geistigen Auge wieder, als ob es gerade jetzt passieren würde.
Rückblick: Mittwoch 13.01.2010 gegen 15 Uhr
Nun stand er wieder vor dem Haus und schrie fast vor Wut. „Wieder er, wieder er, du verdammter Hund, verdammtes Schwein“.
Das Auto von Philip stand vor dem Haus. Das hieß, dass er da war. Er wollte ihn aber nicht sehen. Er wollte ihn nie mehr sehen. Nie mehr. Er hatte einen Druck in sich, eine Stimme die ihm sagte, töte diesen Menschen. Das ist das Schwein. Aber er wusste nicht, warum er ihn töten sollte. Er hatte doch nichts getan. „Doch, doch, der ist ein Schwein, das ist das Schwein, das du in deinem Traum gesehen hast“, hörte er diese neue Stimme sagen. Diese Stimme klang nicht wie der Rebell oder die Engel. Diese Stimme war ruhiger und selbstsicher und ließ keinen Zweifel daran, dass sie Recht hatte. Diese Stimme hörte er nur dieses Mal und nie mehr wieder. Aber das prägte sich ihm so ein, dass er wieder eine schmerzhafte und tief unangenehme Erektion bekam. Was hatte sein Halbbruder mit seiner Erektion zu tun? fragte er sich und als er dessen Auto berührte, spürte er so etwas wie Hass und wusste in diesem Moment, dass er doch noch mit diesem Mann zu tun haben würde. Er war noch nicht fertig mit ihm.
Er zog sein kleines Taschenmesser, das auf den ersten Blick wie ein Kugelschreiber aussah, aus seiner Tasche und machte alle Reifen des Autos platt. Er zerkratzte das ganze Auto und steckte das Messer wieder in seine Tasche. In diesem Moment spürten seine scharf entwickelten Instinkte, dass jemand ihn beobachtete. Er hob seinen Kopf und sah seine Mutter am Fenster des ersten Stockes, die ganz ruhig, mit einem neutralen Gesicht alles verfolgte, ohne eine Geste zu machen.
Sie schauten sich ein paar Sekunden an, dann verschwand sie wieder.
Johnny wusste sofort, dass sie seinem Bruder nichts von dem Vorfall erzählen würde. Er verstand es. Sie wollte ihm sagen, „Tu es. Mach das, wenn es dir hilft“, aber er selbst wusste nicht, ob es ihm half oder nicht. Es war ihm auch egal und er fragte sich gar nicht, was wäre wenn Philip jetzt hinauskäme. Alles war ihm egal. Der Hass und die Wut steuerten ihn.
Nachdem er dem Auto richtig großen Schaden zugefügt hatte, wandte er sich nun Richtung Hauseingang. Er stand vor der Tür und wusste nicht, was er tun sollte. Reingehen, weggehen, dastehen? Er setzte sich einfach vor der Tür in den Schnee und wartete fast 15 Minuten. Seine Mutter hatte sich nicht mehr gezeigt und war auch nicht zu ihm heruntergekommen.
Da er immer noch die Schlüssel des Hauses hatte, und hereinkommen durfte wann er mochte, stand er auf, schloss die Tür auf und ging aber in den Keller. Das war das erste Mal überhaupt, dass er im Keller dieses Hauses war. Komisch, sagte er sich, obwohl er schon mehrmals da gewesen war.
Er setzte sich in der Waschküche auf die Waschmaschine und überlegte. Warum bin ich eigentlich hierhergekommen? fragte er sich. In diesem Moment sah er Bilder vor seinen Augen. Er sah eine Tür, eine Kiste. Er stand auf und ging durch die Gänge des ganzen Kellers, und plötzlich stand er vor der Tür, die er gerade in seiner Vision gesehen hatte. Die Tür war mit einem speziellen Schloss gesichert. Johnny aber lächelte. Was war das denn schon gegenüber den gepanzerten und atomar-ausgestatteten Türen, die er damals im Einsatz hatte öffnen müssen?
Kurze Zeit später war er in einem großen Raum mit vielen Kisten. Alle waren mit einem Schloss verriegelt, bis auf eine Kiste, die offenstand. In seinen Einsätzen als Soldat hatte er mehrmals solche Situationen erlebt, in denen er schnell entscheiden musste. Er hatte nicht genug Zeit, alle Kisten zu öffnen, deswegen musste er überlegen, nach einem Ausschlussprinzip agieren und so schon einige Kisten aussortieren.
Warum sind alle Kisten zugeschlossen bis auf diese eine? überlegte er. Es könnte Absicht sein, damit man gerade die offene Kiste als belanglos ansah. Ja, gerade das, was auf den ersten Blick belanglos aussah, war oft der wichtigste Anhaltspunkt, hatte er gelernt. Von dort kam oft die tödliche Gefahr. Deswegen holte er die offene Kiste, stellte sie auf den einzigen Tisch, der im Raum war und suchte darin. Er hatte Recht. Das war die richtige Kiste.
Nach 20 Minuten verließ er das Haus. Er lief wieder an dem Auto vorbei und diesmal zerkratzte er die Frontscheibe. Und auch diesmal hatte er wieder das Gefühl, dass jemand ihn beobachtete. Er hob den Kopf und sah seine Mutter am Fenster. Sie schaute nicht auf das Auto sondern auf das, was Johnny in der Hand hielt. Johnny sah sie lange an, vielleicht 5, 10, 15 Minuten? Er wusste es gar nicht mehr. Aber es war sehr lang, so lang, dass seine Finger erfroren.
Seine Mama bewegte sich nicht. Sie sah aber diesmal nicht so traurig aus wie vorhin, wie vor 45 Minuten. Sie schien, obwohl sie ihre Miene nicht verzog und keine Gefühle zeigte, ja, sie schien, als ob sie ihn anlächeln würde, als ob sie zufrieden und erlöst wäre. Ihre Augen strahlten vor Glück.
Johnny steckte das kleine Buch in seine leichte Jacke und ging weg. Er drehte sich noch einmal zu seiner Mutter um, aber sie war nicht mehr da und der Vorhang war zugezogen. Er bekam ein komisches Gefühl, ein solches Gefühl, das man hat, wenn man sich auf Nimmerwiedersehen wünschte, und etwas sagte ihm, dass dies das letzte Mal war, dass er seine Mutter sah.
Wieder im Zug nach Darmstadt blätterte er im Tagebuch seiner Mutter:
Es war weniger ein Tagebuch als ein Erklärungsbuch. Es fing über Philip an. Er las einige Seiten und steckte das Buch zurück in seine Jacke, als er wieder an den Abschied von seiner Mutter dachte.
Was er da gelesen hatte klang nicht gut. Das war schlimm. Er hatte es nie geahnt. Das klang schrecklich. Er hatte sich immer wieder folgende Fragen gestellt: Was geht durch den Kopf dieser Frau? Was trägt sie so mit sich? Was belastet sie so? Warum lachte sie so wenig? Warum ist sie nie glücklich, auch wenn sie sich freut? War das, was er jetzt gelesen hatte, der Grund dafür? fragte er sich, oder nur einer von vielen Gründen?
Er wollte dieses Buch in Ruhe irgendwann weiter lesen, aber jetzt nicht mehr.
„Ich will jetzt nicht ihre Jammerei hören und ihre Entschuldigung auf diese Weise erfahren. Es ist feige, sie hätte direkt mit mir reden können“, sagte er sich, auch wenn es ihm ein bisschen leid tat, was sie erlitten hatte.
Ja, das war die Erinnerung an den Abschied von seiner Mutter. Die Sache hatte sich so schnell entwickelt, dass er das Buch total vergessen hatte und sich erst jetzt wieder daran erinnerte.
Wo ist es denn? fragte er sich. Und dann erinnerte er sich, dass es in seiner Aktentasche sein musste. Jetzt wollte er es bei der nächsten Gelegenheit bis zu Ende lesen.
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