„Der Mann ist tot. Er wurde erschossen!“, stellte er fest.
„Und das wissen Sie so genau?“ antwortete der Beamte, sah dann aber die Lache des Blutes, die sich rasch vergrößert hatte. Es war ein sehr junger Polizist, geradewegs von der Akademie in den Außeneinsatz gelangt, der noch nie mit einem schwerwiegenderem Delikt als einem versuchten Autodiebstahl leibhaftig in Berührung gekommen war. Das hier überstieg ohne Zweifel seine Kompetenzen.
„Ja. Das ist offensichtlich! Rufen Sie besser ihre Kollegen von der Kriminalpolizei!“, riet ihm der Ersthelfer, und der Beamte kam zum Schluss, dass dies wohl wirklich das Beste sei. Ihm blieb ebenso wie den Gaffern verborgen, dass der freundliche Fremde mit den grauen Haaren den Toten innerhalb kurzer Zeit durchsucht und etwas von sehr geringer Größe aus dessen Besitz bei sich selber eingesteckt hatte.
*
Oberinspektor Blansko nahm den Telefonhörer, kaum nachdem der veraltete Apparat zweimal geklingelt hatte. Freysing saß ihm gegenüber auf dem Besucherstuhl, während der Assistent die ganze Zeit über in der Nähe der Tür in seinem Rücken stand. Eine ungemütliche Situation!
Der Beamte am Schreibtisch hörte aufmerksam zu, was ihm mitgeteilt wurde, sprach nur einsilbig, blickte dabei Freysing mehrfach kurz an, meinte schließlich das er sich darum kümmern werde und legte anschließend sehr behutsam wieder auf. Dann wandte er seine gesamte Aufmerksamkeit dem Deutschen zu. Dieser registrierte sofort, dass etwas sehr ernstes geschehen sein musste.
„Wir haben noch einen Mord!“, stellt er fest, aber wartete vergeblich auf eine besondere Reaktion bei Sax. Dieser hob lediglich die Augenbrauen.
„Noch einen Mord?“
„Ja. In der Zámečnická , ganz in der Nähe des Freiheitsplatzes.“
„Na, da habe ich ja Glück, dass ich hier bei Ihnen sitze“, reagierte Sax mit beinahe schwarzem Humor. Gleichwohl hatte er ein ungutes Gefühl.
„Womöglich mehr, als sie denken.“, entgegnete Blansko ernst. „Es handelt sich nämlich erneut um einen ihrer Landsleute. Ein Mann namens Steiner. Wolfgang Steiner. Aus Pirna. Sie kennen Ihn nicht zufällig?“
Sax musste unauffällig schlucken. „Sagt mir erstmal nichts“, behauptete er so ruhig wie möglich, während in seinem Kopf viele Gedanken zu kreisen begannen.
„Wir haben seine Telefonnummer ebenfalls bei Marius Holler gefunden, aber ich hatte ihn telefonisch in Deutschland nicht erreichen können, nur dessen Frau. Sie wusste nicht, wo er sich aufhielt. - Jetzt wissen wir es!“, führte Blansko aus.
„Der Name sagt mir wirklich nichts!“, bekräftigte Freysing, nun wieder innerlich gefasster. Die Lüge kam ihm aalglatt und glaubwürdig über die Lippen.
Es gab sicher keine Möglichkeit, ihn mit Steiner in Verbindung zu bringen. Das Treffen auf „Burg Eichhörnchen“ konnte doch niemand beobachtet haben – oder? Da war immerhin die scheinbar zufällige Erwähnung Blanskos, und das Gelände der Burg wurde weitläufig videoüberwacht. Was auch immer so wichtig gewesen sein mochte, das ihm der Ex-Stasi heute hatte sagen wollen – es reichte aus, diesen zu töten. Am hellichten Tag auf offener Straße! Offenbar war irgendwer irgendwo sehr aufgescheucht worden durch Hollers Nachforschungen. Jemand musste sich dringend um diese Sicherheitsfirma in Prag kümmern!
„Zwei gewaltsame Todesfälle, die miteinander in Verbindung stehen, und das innerhalb weniger Tage. Sie kannten Holler. Ich glaube, dass sie wesentlich mehr wissen, als Sie mir weißmachen wollen!“. Blansko nickte seinem Assistenten zu, der sofort die Verhörstube verließ, um den Wagen vorzufahren.
„Wollen Sie mich jetzt verhaften?“, fragte Sax misstrauisch. Die Tschechische Polizei konnte immer noch sehr restriktiv sein, auch wenn die Zeiten von damals vorbei waren. Aber bezüglich des Mordes an Steiner war er immerhin definitiv entlastet.
„Nein. Aber sie kommen mit. Zum Tatort. Ich möchte, dass Sie sich den Toten ansehen. Vielleicht erkennen Sie ihn ja doch.“
Als Sie zu der Stelle gelangten, an welcher Steiner erschossen worden war, hatten die Kollegen von Blansko diese bereits weiträumig abgesperrt und die Schaulustigen zurückgedrängt. Diese standen jetzt in größerer Zahl jenseits eines Absperrbandes und versuchten, einen Blick auf die Leiche zu erhaschen, die ihrer direkten Sicht entzogen neben dem Fahrzeug lag und inzwischen mit einer grauen Plane zugedeckt war. Außer den Spurensicherern in ihren Ganzkörperanzügen befanden sich nur wenige weitere Menschen innerhalb des polizeilich gesicherten Bereichs, einer davon war jener Passant, der als erster zu dem Toten hingetreten war und nun einem Beamten in Zivil das wenige sagte, was er beitragen wollte. Dieser machte eifrig über jedes Detail Notizen. Sax warf lediglich einen kurzen Blick auf beide.
Der Oberinspektor zeigte den Ausweis mit seiner Dienstmarke, um samt Assistent und Freysing unter dem Flatterband hindurch die wenigen Meter bis zu dem Toten zu gelangen. Dort beugte er sich herab und nahm die Plane ein Stück weit beiseite.
Es sah hässlich aus. Die Kugel war nicht durch den Schädel hindurchgegangen, sondern schien im Inneren explodiert zu sein. Das Gesicht blieb ohne jegliche Verletzung, aber das Hirn war völlig zerstört. Der Tod musste immerhin sofort eingetreten sein.
„Nein!“, schüttelte Sax den Kopf, während er sich angewidert abwandte. „Der Mann ist mir völlig unbekannt“, log er erneut, ohne dabei rot zu werden.
Blansko sah ihn beinahe durchdringend an, konnte ihm aber das Gegenteil nicht beweisen. „Na schön.“
„Und jetzt?“
„Mein Assistent bringt Sie zur Pension“, sagte der Beamte nachdenklich. „Ich denke, es ist wirklich besser, wenn Sie dieses Land zügig verlassen. Ich glaube zwar nicht, dass sie mit dem Tod von Marius Holler direkt etwas zu tun haben. Aber irgendwie stehen Sie mit der Angelegenheit tiefer in Verbindung. Ihre Anwesenheit ist, so fürchte ich, nicht länger hilfreich für unsere weiteren Ermittlungen.“
Freysing hatte etwas in dieser Richtung befürchtet, konnte sich aber kaum offen wiedersetzen. Er war in diesem Land lediglich Gast ohne jegliche Befugnis, und wenn die Behörden zu dem Schluss kamen, dass sie ihn hier nicht mehr haben wollten, würde er abreisen müssen, EU und Reisefreiheit hin oder her.
Der Assistent fuhr ihn allein im Skoda zurück zur Pension. Als er dort sein Zimmer betrat – glücklicherweise ohne seinen Aufpasser, der unten am Eingang wartete – traf ihn fast der Schlag. Seine gesamte Unterkunft war völlig durcheinandergebracht, alles lag wild herum und er stellte sofort fest, dass nicht nur sein eigener IPad verschwunden war, sondern auch der Laptop Hollers. Der doppelte Boden der Aktentasche war offenbar schnell gefunden und fachmännisch aufgeschlitzt worden. Das Fernglas mit dem Chip von Kisci war hingegen noch vorhanden, ebenso wie seine Pistole. Sax ordnete und packte eilig seine herumliegenden Sachen, bis nichts mehr im Zimmer auf die fremde Durchsuchung und den Diebstahl hindeutete.
Hollers Rechner war bereinigt, und auch um sein eigenes Gerät machte er sich keine besonderen Sorgen. Sobald jemand versuchte, das Passwort zu hacken, würde eine spezielle Säurepatrone im Inneren die Speicherplatte es unbrauchbar machen. In Deutschland konnte er schnell einen neuen erhalten. Aber die Tatsache allein, dass man sich dessen bemächtigt hatte, deutete erneut sehr darauf hin, dass er den Hintergründen bereits nahe war.
Er ging nachdenklich mit seinem Gepäck hinunter und zahlte an der Rezeption die Rechnung. Weder dort noch gegenüber dem Assistenten Blanskos, der sich leicht ungehalten über die längere Wartezeit für das Packen seines unfreiwilligen Schützlings mokierte, teilte er etwas von den beseitigten Zuständen oder gar den Verlusten mit. Der Mann fuhr ihn zum Flughafen, wo er sorgsam darauf achtete, dass sich Freysing auf den nächsten Flug nach München eincheckte. Dann wünschte er ihm eine Gute Reise und verschwand.
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