Im Treppenhaus begegnete ihnen zunächst niemand, aber am Hauseingang hielt ihnen eine freundliche kleine ältere Dame mit Kopftuch sogar die Tür auf, und Irina lächelte sie an, obwohl es zu Lächeln gerade eigentlich nicht ihre Stimmung war.
„Ich fahre für ein paar Tage weg!“, sagte sie zu ihr.
„Soll ich mich um ihre Wohnung kümmern solange?“, fragte die Dame etwas misstrauisch in Hinsicht auf die beiden Männer.
„Nicht nötig. So ewig bleibe ich nicht!“. Sie wollte der hilfsbereiten Hausbewohnerin augenscheinlich den Anblick der verwüsteten Einrichtung ersparen.
Dann traten sie weiter hinaus auf die Straße. Freysing sah sich um. Im Augenblick herrschte sehr wenig Betrieb, es war Nachmittag, und der Feierabendverkehr hatte noch nicht richtig eingesetzt. In der Nebenstraße war es einigermaßen ruhig, der Betrieb herrschte eher in den angrenzenden Geschäften und einem kleinen Café an der Ecke.
„Du hast ein Auto hier?“, fragte Sax und stieß den Gefesselten kurz an.
„Da vorne. Der blaue Audi“, gab dieser sofort zu.
Sax blickte dorthin und erinnerte sich, das Fahrzeug auch bereits bei seinem Eintreffen dort bemerkt zu haben, aber da hatte er dem Umstand keine weitere Bedeutung zugemessen. Er schalt sich selbst innerlich für die Unaufmerksamkeit. Der Schlüsselbund, den er Zbytečný abgenommen hatte, besaß einen Anhänger mit dem Markenlogo. Es war ein alter Wagen mit einem rein mechanischen Schloss, und es sollte stimmen. Zu dritt gingen sie den Bürgersteig entlang zu dem Fahrzeug.
Er drückte Irina den Schlüsselbund in die Hand. „Machen Sie mal den Kofferraum auf!“, forderte er, und sie tat wie geheißen.
Sie wollte ihre Tasche hineinstellen, aber er schüttelte den Kopf. Da gerade niemand sonst in der Nähe war, nahm er blitzschnell die Waffe hervor und hieb dem erfolglosen Killer damit auf den Hinterkopf. Er gab keinerlei Geräusch von sich und sackte nach vorn halb über die Kante des Kofferraums. Sax steckte die Waffe sofort seitwärts vorn unter der Jacke in seinen Gürtel und half mit beiden Händen nach, Zbytečný ganz im Wagen verschwinden zu lassen. Schnell schlug er den Deckel zu, bevor ein näherkommender Passant oder Gäste aus dem Café schräg gegenüber davon noch etwas mitbekommen konnten.
„Steigen Sie vorn ein. Ich fahre! Die Tasche können Sie auf den Rücksitz stellen!“
Irina war viel zu aufgeregt und eingeschüchtert, um hiergegen Protest zu erheben. Eine halbe Minute später befanden sie sich auf dem Weg aus der Stadt hinaus.
*
Kaum waren sie aus der Umgebung des Häuserblocks entschwunden, als der Polizei-Skoda mit Blansko und dessem Assistenten an Bord um die Ecke bog. Sie hielten am Straßenrand jenseits eines schmalen Grasstreifens direkt vor dem Eingang an und stiegen aus. Dann klingelten sie bei Irina und wiederholten es energischer, nachdem ihnen niemand öffnete.
„In der Klinik sagten sie doch, sie habe bereits Feierabend?“, versicherte sich der Oberinspektor. Sein Assistent nickte. „Vielleicht ist sie ja noch einkaufen?“, bemerkte er. Blansko zeigte jedoch Ungeduld und klingelte bei mehreren anderen Hausbewohnern gleichzeitig. Einige Sekunden später wurde ihnen von verschiedenen Wohnungen her geöffnet. Sie traten ein und gingen die Treppen hinauf. Dort, wo ihnen Neugierige entgegen traten, zeigten sie ihre Dienstmarken.
Vor Irinas geschlossener Wohnungstür blieben sie stehen. Blansko klopfte mehrfach fest mit der Faust dagegen.
„Aufmachen, Polizei!“, rief er laut, und lauschte vergebens auf Antwort. Drinnen war es absolut still. Sein Blick fiel für einen Moment auf die Scherben im Flur, die von dem zerdepperten Blumentopf herrührten, und er besah sich die Pflanzenreste auf dem Schemel. Doch er wurde sogleich davon abgelenkt.
„Die Nohydlouhý ist für ein paar Tage weg!“, sagte eine Stimme. Sie gehörte zu jener älteren Dame, welche Irina und ihren Begleitern die Haustür aufgehalten hatte.
„Allein?“
„Nein. Zwei Männer waren bei ihr.“
„Zwei Männer? Kannten sie die?“
„Nein. Noch nie vorher gesehen. Aber Irina wirkte etwas ängstlich, auch wenn sie sich Mühe gab, sich das nicht anmerken zu lassen.“
„Wie sahen sie aus?“
Sie beschrieb zuerst Zbytečný, der ihr nicht ganz geheuer vorgekommen war und eine deutliche Blessur am Kinn hatte. Außerdem waren ihr dessen ungepflegte Haare aufgefallen, und der merkwürdig getragene Sommermantel. Sie schaute gern Krimis im TV. „Ist etwas mit Irina?“, fragte sie dann.
„Und der andere?“, fuhr Blansko unbeirrt fort, ohne Auskunft zu erteilen.
„Groß, nicht ganz zwei Meter, denke ich, und dunkelblond. Um Mitte vierzig, würde ich sagen, vielleicht etwas jünger. Mit einem Dreitagebart.“
„Deutscher?“, wurde Blansko aufmerksam.
„Weiß nicht. Er hat nicht gesprochen. Sie gingen zu einem geparkten Wagen.“
Er blickte seinen Assistenten an. „Haben Sie gesehen, wie Freysing in das Flugzeug nach München gestiegen ist?“, fragte er diesen, erwartete aber nicht wirklich eine positive Antwort, denn die Angaben der Frau waren schon recht zutreffend auf den Deutschen.
„Ich habe ihn beobachtet, bis er durch die Kontrolle ist. Dann bin ich gegangen.“
„Ich möchte wetten, er ist zurückgekommen!“, stellte Blansko fest. „Der Beschreibung nach könnte er es sein, und er ist der einzige von den gegenwärtig bekannten Beteiligten, auf den sie passt.“
„Was will der denn noch hier?“
„Er weiß definitiv mehr, als er uns bisher gesagt hat.“ Blansko wandte sich wieder an die alte Frau. Es war ein kleines, eher schüchternes Persönchen, die auf gar keinen Fall Ärger mit der Polizei wollte. Das nutzte er aus.
„Was war das für ein Wagen, zu dem sie gegangen sind? Marke? Baujahr?“
„Weiß nicht. Alt. Ein ausländisches Modell. Kleine, blaue Limousine.“
„Besitzen sie einen Schlüssel für die Wohnung hier?“, fragte Blansko weiter.
„Ja, schon, für Notfälle …“
„Das ist einer! Holen sie ihn!“, befahl der Beamte, keinen Widerspruch duldend.
Zwei Minuten später standen sie dem Chaos in Irinas Behausung gegenüber. Die einbezogene Nachbarin war entsetzt, während die Kriminalpolizisten es mit geübtem Blick emotionslos zur Kenntnis nahmen.
„Die beiden Männer haben hier etwas gesucht, schätze ich“, begann er irrig seine weiteren Überlegungen, während er ebenso vorsichtig wie ergebnislos in den herumliegenden Sachen stocherte, um vielleicht zufällig irgendetwas von Bedeutung zu entdecken.
„Und was?“, wollte sein Assistent wissen.
„Etwas, das möglicherweise einen Hinweis auf Hollers Tod geben könnte.“
„Und was tun wir jetzt?“
„Fahndung nach Irina Nohydlouhý und Günter Freysing. Phantombild von dem zweiten Mann und Fahndung dann auch nach ihm. Verdacht auf Kidnapping.“
„ Kidnapping?“
„Unsere Zeugin hier sagte doch aus, die Nohydlouhý habe ängstlich gewirkt.“
Der Assistent nickte daraufhin nur noch kurz, zog sein Handy hervor und telefonierte umständlich mit der Zentrale. Daher nahm Blansko es ihm unwirsch ab und wurde energischer. Am anderen Ende der Verbindung kam man sehr schnell seiner Aufforderung nach. Binnen kürzester Zeit war die Suche eingeleitet. Nach zwei Männern und einer Frau, in einer älteren blauen Limousine.
*
Freysing saß am Steuer des Audi und reizte die höchstzulässige Geschwindigkeit, den einheimischen Fahrern vor ihm angepasst, mehr als aus. Der Wagen besaß eine Automatik, und so brauchte er nicht viel zu tun.
„Nun erzählen Sie mal!“, forderte er unterwegs, während sie die Straße nach Süden nahmen, Richtung Pohořelice , in dessen Nähe nach Irinas weiteren Angaben deren ältere Schwester wohnte, bei der sie unterkommen wollte. Sie saß leicht zitternd unangeschnallt auf dem Beifahrersitz und lutschte nervös an ihren langen Fingernägeln.
Читать дальше