1 ...6 7 8 10 11 12 ...45 »Geld spielt keine Rolle, Tom. Wie spät ist es?«
»Nur die Ruhe, Veyron. Noch nicht mal acht. Jane kommt bestimmt. Wir sind ja erst seit ein paar Minuten hier.«
»Ich weiß.«
Tom musste lächeln. »Sie sind nervös, oder?«
Veyron bedachte ihn mit einem überraschten Blick. »Nein, ich habe jedoch eben beobachtet, wie der Gast von Tisch dreiundzwanzig heimlich das Besteck in seiner Hosentasche hat verschwinden lassen. Dann sind da diese Frau und dieser Mann an Tisch zwölf, die sich über vollkommen belangloses Zeug unterhalten. Es ist kein Pärchen, sondern eine Mutter mit ihrem Sohn. Sie ist Witwe, das verrät mir der Ehering, den sie an einer Kette um den Hals trägt. Er ist identisch mit dem Ring an ihrem Finger. Ihr Gegenüber kann daher wohl nur ihr Sohn sein, wenn man bedenkt, wie wenig er sein Äußeres pflegt und sie, die feine Lady, darüber hinwegsieht. Sieh nur, wie er Interesse heuchelt. Seine Körperhaltung verrät dagegen Ungeduld und Desinteresse. Vermutlich trifft er sich nur mit ihr, um sein Erbe zu sichern. Irgendetwas hat er vor, das verrät mir das unruhige Trippeln seiner Schuhe, das er vor ihr zu verbergen versucht. Vielleicht will er sie ermorden? Auch an Tisch achtzehn findet ein Drama statt. Ein älterer Herr und eine junge Frau — seine Geliebte. Er trägt einen Ehering, sie dagegen nicht. Abgesehen davon ist sie mindestens zwanzig Jahre jünger als er. Sie ist definitiv nicht seine Tochter, es gibt weniger als zwanzig Prozent äußerliche Gemeinsamkeiten. Die beiden sind sich wohl einig, sich zu trennen. Zumindest deuten die langen Gesichter, die sie machen, darauf hin. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass beide noch keinen einzigen Bissen zu sich genommen haben«, ratterte Veyron mit schneller Stimme los. Tom hatte Mühe, den ganzen Ausführungen zu folgen. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Veyron«, rief er. »Wir sitzen hier gerademal seit zwei Minuten! Gibt es denn irgendetwas, das Sie noch nicht wahrgenommen haben?«
»Nein. Das ist der Fluch meines hochsensiblen Wahrnehmungsvermögens. Wie spät ist es?«
Tom wollte darauf eben etwas erwidern, als eine neue Stimme seine Aufmerksamkeit erregte.
»Hoffentlich nicht zu spät?« Wie von Geisterhand stand plötzlich Jane Willkins vor dem Tisch. Tom fielen vor Staunen fast die Augen aus dem Kopf. Jane trug ein armfreies Abendkleid aus Satin. Mit den silbernen Perlen in ihrem hochgesteckten dunklen Haar, sah sie aus wie eine Königin. Veyron erhob sich höflich und rückte den Stuhl zur Seite, auf dem Jane Platz nehmen sollte.
»Einen wundervollen guten Abend, Jane. Sie sehen bezaubernd aus, falls ich das erwähnen darf«, sagte Veyron. Sie lächelte etwas verschämt und wandte sich zur Seite.
»Norman!«, rief sie. Auf ihren Wink setzte sich ein Mann in Bewegung. Der Angesprochene hatte sich die ganze Zeit mit einem Pärchen an Tisch vierzehn unterhalten. Jetzt wandte er sich Jane zu und grinste; ein gutaussehender Kerl, hochgewachsen und mit breiten Schultern. Seine Schritte zeugten von der Energie und Dynamik, die schwarze Gelfrisur von einer gewissen Eitelkeit. Ohne Zögern trat er jetzt an Janes Seite. Norman überragte sie um gut einen Kopf, sie musste regelrecht zu ihm aufblicken. Seine Augen musterten Tom und Veyron neugierig.
»Darf ich dir meine Freunde vorstellen?«, sagte Jane zu Norman und ergriff seine Rechte. Freundlich lächelte er Tom und Veyron entgegen.
»Das sind Tom Packard und sein Patenonkel, Veyron Swift. Veyron, Tom — das ist Norman Oates, mein Freund.«
Augenblicklich fiel Veyron zurück auf seinen Stuhl. Immerhin gelang es ihm, seine Verblüffung durch ein geschäftsmäßiges Lächeln zu verbergen. Tom wusste dagegen nicht, was er sagen oder tun sollte. Das war ein richtiger Schock!
Jane und Norman setzten sich zu ihnen und falteten die Speisekarte auf.
»Das ist schön, Willkins, eine richtig tolle Sache«, meinte Veyron. Für einen kurzen Moment schlich sich ein diabolisches Lächeln auf seine schmalen Lippen. »Schade ist lediglich, dass es nicht lange halten wird.«
Tom konnte spüren, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Er unterdrückte einen plötzlichen Hustenreiz. Was tut Veyron denn da?
Oates hob neugierig seine Augenbrauen, während sich Janes Augen fassungslos weiteten. »W … wi … wie meinen Sie das?«, wollte Oates wissen. Das Misstrauen in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Tom biss sich auf die Lippe. »Ach, ihr kennt ja Veyron. Er sieht ja ständig irgendwelche Sachen.«
Doch Veyron Swift befand sich auf Kriegspfad mit Oates. Er wollte gar nichts verharmlosen. Mit sichtlicher Freude an der eigenen Boshaftigkeit lehnte er sich zurück. »Eine Schlussfolgerung aus meiner Beobachtung, nehmen Sie es nicht persönlich, Norman«, sagte er, während sich seine Hände bedrohlich langsam zusammenfalteten.
Tom hielt die Luft an. Oates und Veyron stierten sich an, ihre Blicke fochten ein stilles Duell aus. Anders als Veyron ahnte Oates nicht im Geringsten, mit welchem Gegner er es hier zu tun hatte; Veyron dagegen schien seinen Feind schon binnen Sekunden durchschaut zu haben.
»Sie gingen in Eton aufs College und haben in Cambridge studiert. Sie bewegen sich in hoher Gesellschaft, was Sie sehr genießen und in Folge sehr stolz darauf sind, dem elitären Zirkel Großbritanniens anzugehören. Zu Ihren Freunden zählen mitunter die reichsten und mächtigsten Frauen und Männer Londons. Sie sind ein Kosmopolit und reisen sehr viel, zumeist geschäftlich, zuletzt in den Süden. Jane Willkins dagegen stammt aus einfachen Verhältnissen, ihr Großvater ist ein Farmer aus Watford. Als gewöhnliche Polizistin verdient sie im Jahr etwa das, was Sie wohl im Monat an Lohn einstreichen. Sie hat weder studiert noch eine höhere Schule besucht. Von daher wird sie es sehr schwer haben, innerhalb der Gesellschaft, in der Sie sich bewegen, Akzeptanz zu finden.«
Tom wusste nicht, welche Farbe sein Gesicht inzwischen angenommen haben musste. Wahrscheinlich war es von rot zu grün und dann zu kreidebleich gewechselt. Hatte Veyron denn vollkommen den Verstand verloren?
Oates Finger krallten sich in die Speisekarte, sein Kopf war hochrot. Jane starrte kommentarlos auf die Tischplatte. Es war ihr sichtlich peinlich.
»Woher wissen Sie das alles? Soweit ich weiß, sind wir beide uns nie zuvor begegnet. Und Jane hat mir verraten, dass Sie mich Ihnen gegenüber noch nie erwähnt hat«, schimpfte Oates zornig.
Wenn ich die Zähne noch fester zusammenbeiße, werden sie zerbrechen , dachte Tom verzweifelt. Dieser Idiot von Oates lieferte Veyron munter weiter Munition für diese Schlacht.
»Sie tragen die schwarz-türkis gestreifte Krawatte eines Old-Etonian, der Siegelring an Ihrem linken Ringfinger trägt das Wappen der Cambridge-Universität. Dass Sie heute Abend sowohl Krawatte als auch Ring tragen, macht deutlich, wie stolz Sie auf Ihren Werdegang sind. Ihre enge Verbundenheit zu Eton und Cambridge lässt zudem keinen anderen Schluss zu, dass Sie sich im Kreise Gleichgesinnter bewegen, ehemaliger Kommilitonen, viele davon Wissenschaftler, Wirtschaftslenker oder Politiker — die Elite des Vereinten Königreichs eben. Dann zu Ihrem Einkommen: Der maßgeschneiderte Anzug, die sündhaft teure Uhr, die Lacklederschuhe — das Paar für rund zweitausend Pfund — alles nagelneu, keine Kratzer, keine Schrammen. Die Sohlen Ihrer Schuhe sind auf keiner Seite abgetreten. Ihr ganzes Outfit dürfte in etwa das gekostet haben, was Willkins in vier Monaten verdient. Zuletzt zu Ihrer Reisetätigkeit: Ihre Handrücken sind gebräunt, die Haut unter dem Ärmel erkennbar blasser. Sie hatten offenbar keine Zeit für ein Sonnenbad, weswegen nur eine Geschäftsreise in den Süden als Erklärung in Frage kommt. Alles in allem lässt sich also schlussfolgern, dass Sie zur Upper Class gehören. Es ist bekannt, welche Vorbehalte dort gegenüber Mitgliedern des niederen Standes gehegt werden. Folglich wird es Jane als Ihre Freundin nicht einfach haben«, erläuterte Veyron so emotionsfrei wie eh und je.
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