»Immer hereinspaziert«, forderte ihn Veyrons Stimme auf. Tom schnaubte. Sein Patenonkel stand ihm gegenüber, vielleicht vier Meter entfernt, die Hände in die Taschen seines weinroten Morgenmantels gestopft. Kopfschüttelnd machte Tom einen Schritt auf ihn zu.
»Mann, was für ein Mist ist das denn wieder? Und warum — Autsch!«
Der Aufprall war hart, drohte ihm fast die Nase zu brechen. Fluchend wich Tom zurück, nur um festzustellen, dass er gegen eine Spiegelwand geknallt war. Sofort wurde sie in Bewegung versetzt, schob sich zur Seite, zusammen mit einem Dutzend weiterer Wände. Veyrons Labyrinth änderte sich aufs Neue. Toms Geduld neigte sich ihrem Ende.
»Veyron, das ist nicht lustig!«
»Kommt auf die Perspektive an.«
Tom trat nach der nächstbesten Holzwand. » Das sag ich dazu!«
» Das war ein Fehler, mein Lieber.«
Mit einem lauten Plopp schoss rechts von ihm ein Airbag aus der Wand. Tom wich zurück, nur um jetzt auch von der anderen Seite von einem Airbag angegriffen zu werden. Weitere Kunststoffbeutel ploppten aus den Wänden, blähten sich zischend auf. In Rekordzeit war Tom umzingelt. Er verlor die Bodenhaftung, hing hilflos zwischen den Airbags fest. »Veyron!«
»Die reinste Mausefalle, oder?«
»Lassen Sie mich runter!«
Ein Moment verging. Nichts passierte. Tom fürchtete, er müsste seinen Paten am Ende auch noch höflich darum bitten. Gerade öffnete er die Lippen, als die Luft zischend aus den Airbags entwich. Motorengeräusche wurden laut, es rumpelte und ratterte an allen Ecken und Enden. Wand für Wand schob sich das Labyrinth zur Seite. Erst jetzt entdeckte Tom die Schienen, die kreuz und quer über den Boden verliefen, sah die Aufhänger an der Decke. Es mussten an die dreißig Wände sein, die nun wie in Paradestellung an der Ostwand des Wohnzimmers zum Stehen kamen. Das gesamte Mobiliar hatte dafür weichen müssen: Die Bücherregale, der Tisch, die alte Besuchercouch. Allein der große Ohrensessel stand noch mitten im Zimmer, auf seinem Polster ein vergnügt dreinblickender Veyron Swift im Morgenmantel.
»Erstaunlich, nicht wahr? Meine neueste Kreation.« Veyron grinste von einem Ohr zum anderen.
Tom holte tief Luft. »Verrücktes Zeug, meinten Sie wohl. Was um alles in der Welt soll das?«
Die Kritik in Toms Worten überging Veyron vollkommen. »Eine Absicherung. Die Wände bilden automatisch ein Labyrinth, sobald der Haustürsensor meldet, dass es einen unbefugten Zutritt gibt. Der Vorgang dauert weniger als dreißig Sekunden. Die Zusammenstellung des Labyrinths ändert sich nach einem bestimmten Algorithmus alle paar Minuten. Auf diese Weise werden Eindringlinge beschäftigt, während ich entweder die Flucht ergreifen oder Gegenmaßnahmen einleiten kann.« Noch immer wurde seine dunkle Stimme von kindlicher Begeisterung beherrscht.
»Wo sind die Möbel hin, die ganzen Bücher?«
»Oben in deinem Zimmer. Da du es nicht mehr benötigst, habe ich es kurzerhand zum Lagerraum umfunktioniert. Wimille und ich konnten noch keine Lösung ausarbeiten, wie wir die Einrichtung in das Labyrinth integrieren, ohne sie dabei zu zerstören.«
Tom schüttelte fassungslos den Kopf. »Das Alleinsein bekommt Ihnen wohl nicht gut, was? Sie haben viel zu viel Zeit für Blödsinn! Gibt es denn nicht irgendwelche Klienten, die Ihre Hilfe brauchen? Keine Trolle oder wenigstens ein Poltergeist?«
Veyron seufzte. »Leider nein. Die reinste Ebbe. Wie es aussieht, traut sich selbst der kleinste Kobold nicht aus seinem Versteck. Andererseits kommt mir dieser Zwangsurlaub sehr entgegen. Das verschafft mir die Zeit, mich um bislang aufgeschobene Probleme zu kümmern. Die Heimatverteidigung etwa. Meine jüngsten Erlebnisse in Deutschland führten Wimille und mich zu der Erkenntnis, dass wir uns gegen eventuelle Angriffe besser wappnen müssen.«
Genau so etwas wollte Tom jedoch gar nicht hören. »Ich dachte, mein Käfer ist bereits kugelsicher.«
Für diesen Standpunkt hatte Veyron lediglich ein müdes Lächeln übrig.
»Dieser übermotorisierte, mit Funkpeilsendern und elektronischen Abwehrwaffen versehene VW Käfer, den dir mein Bruder zu deinem achtzehnten Geburtstag vermachte, ist allein für deinen Schutz gedacht, Tom. Ich hielt es für nötig, die bisherigen Abwehrmechanismen dieses Hauses auf den neuesten Stand zu bringen.«
Tom rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, um wieder mehr Klarheit zu bekommen. Vielleicht hat Veyron ja recht , sagte er sich. Er war noch immer zu wütend wegen des Labyrinth-Streichs, um das Ganze rationell zu betrachten.
»Weil wir gerade von Angriffen sprechen: Haben Sie etwas gegen die Zaltianna Trading Company unternehmen können? Sie waren jetzt drei Monate lang auf der ganzen Welt unterwegs. Ihre letzte Nachricht kam vor sechs Wochen aus Berlin, dass Sie Lautenthal ausfindig gemacht haben. Soweit ich weiß, ist der Mann später gestorben. Also, was ist da draußen los, Veyron?«
»Es gibt leider nichts Gutes zu berichten, Tom. Nach Lautenthals Ermordung gab es keinen Grund, noch länger in Berlin zu verweilen. Die Dinge, die ich in Erfahrung zu bringen hoffte, blieben mir durch sein unzeitiges Ableben leider verschlossen.«
Tom warf erneut einen skeptischen Blick auf die in Reih und Glied stehenden Labyrinthwände. Ich bin ganz eindeutig lange nicht mehr hier gewesen , befand er. Was würde Veyron nur alles anstellen, wenn er in ein paar Tagen gar nicht mehr hierher zurückkehrte? Eine Katastrophe ließ sich nur vermeiden, wenn man Veyron mit einem neuen Fall beschäftigte.
»Was ist mit Mrs. Tippleston und den Briefen, die ihr verstorbener Mann angeblich aus dem Jenseits schickt?«
»Der hinterhältige Versuch ihres Neffen, an ihr Erbe zu gelangen. Ein Fall meisterhafter Handschriftenfälschung. Da konnte sogar ich noch etwas lernen.«
»Der Fall mit dem Geisterhund aus Dartmoor?«
»Wurde schon vor langer Zeit von jemand anderem gelöst.«
»Was ist mit dem ehemaligen Coast Guard-Offizier, der angab, das Schrat-Piraten für den Tod seiner Frau verantwortlich wären?«
»Schon längst geklärt. Der Mann folgt jetzt einer Aufgabe, in welcher er seine Erfahrungen mit den Schraten nutzbringend umsetzen kann.«
Tom seufzte. Verzweifelt suchte er nach der alten Couch, wollte sich in die Polster fallen lassen. Aber Veyron hatte ja alles nach oben geräumt.
»Mann, wenn wir nicht bald was für Sie zu tun finden, wird das hier noch ein Irrenhaus. Gibt es denn überhaupt gar keinen ungelösten Fall?«
»Lediglich der Fall mit dem Grabmal der Engel.«
»Und was ist das?«
»Bislang hauptsächlich eine Sackgasse. Hier …«
Er warf Tom einen kleinen goldenen Gegenstand zu. Instinktiv fing er ihn auf und drehte ihn neugierig zwischen den Fingern. Es war ein altmodischer Schlüssel, mit auffälligem Doppelbart.
»Ich kann dir sagen, dass dieser Schlüssel in kein Schließfach dieser Welt passt. Er öffnet keine Türen, keine Schränke und keinen Safe, der irgendjemand bekannt wäre«, sagte Veyron.
Tom schürzte die Lippen. »Vielleicht ist er für kein Schloss auf dieser Welt, Veyron. Gehört er nach Elderwelt?«, fragte er, während er den Schlüssel zurückgab. Sofort steckte ihn Veyron wieder in die Hosentasche.
»Davon ist auszugehen. Lautenthal trug ihn bei sich. Ich habe versucht herauszufinden, was man in unserer Welt über das Grabmal der Engel weiß. Sämtliche Bücher, die ich finden konnte, geben jedoch keinen Hinweis darauf. Eine weitere Reise nach Elderwelt scheint mir unabdingbar.«
Das brachte Tom abermals zum Seufzen. Seit zweieinhalb Jahren hatte er nichts mehr von Elderwelt gehört oder gesehen. Vanessa wollte nichts davon wissen. Tom dagegen brannte darauf, wieder dorthin zurückzukehren. Am liebsten hätte er sofort seinen Rucksack gepackt und wäre mit Veyron losgezogen. Doch so einfach wie früher war das jetzt nicht mehr. Bald begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt. Die Zeit für Abenteuer war vorbei.
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