Dorian orderte zwei Tequila Sunrise.
Dorian , nicht Mister Vane . Erstaunlich, wie schnell sie miteinander vertraut waren. Dabei hatte er nichts weiter getan, als sie heute Morgen anzurufen und ihr mitzuteilen, dass er sie abholen würde. Bei seiner Ankunft vor knapp dreißig Minuten war er pünktlich gewesen. Erneut hatte er ihr das „Du“ angeboten, ganz locker und entspannt. Dorian Vane war ausgesprochen zuvorkommend und alles andere als arrogant. Nicht nur, dass er ohne ein Zögern bereit war, Linda ebenfalls mitzunehmen.
Um den heißen Brei herumquatschen, das war nicht sein Ding. Er besaß eine sehr direkte Art, bei der man sofort wusste, woran man war. Bei ihm konnte man sich darauf verlassen, dass er meinte, was er sagte. Ein Mann mit Prinzipien.
»Wie gefällt dir die Party?«, wollte er schließlich wissen.
»Ich fühle mich ein wenig deplatziert«, musste sie schließlich zugeben. All die reichen Leute um sie herum, mit Kleidern und Anzügen, gegen die ihr Ballkleid — es war nicht einmal ihr eigenes — wie ein Putzlumpen wirkte.
»Blödsinn«, meinte Dorian sofort. »Du siehst fantastisch aus, Jane. Es gibt keinen Grund, dich zu verstecken. Da sind genug Augenpaare, die allein auf dich gerichtet sind, einschließlich deines Inspectors und Mr. Swift. Heute Nacht bist du eine Königin, also solltest du auch wie eine feiern. Sei frei, öffne dich und mach genau das, was du willst.«
Er sagte ihr das mit einem unerschütterlichen Ernst in der Stimme. Ein neckisches Lächeln umspielte seine Lippen. »Sei wie ein Vampir, Jane.«
»Es gibt Erwartungen …«, begann sie, aber Dorian schüttelte den Kopf. Seine Finger streichelten ihr sanft über die Wange.
»Vergiss die Erwartungen anderer. Sei ganz du selbst. Du bist eine wunderschöne selbstbewusste Frau, lass dir nichts anderes einreden. Nimm dir, was dir gefällt. Du hast es dir verdient.«
Sofort wollte sie es beherzigen, aber eine innere Stimme, der miesepetrige Teil ihres Wesens, meldete sich sofort zu Wort, versuchte ihr klarzumachen, was für ein Unsinn das war. Sie war doch in Wahrheit nur klein und unbedeutend und wie alle Menschen der Erde höheren Mächten ausgeliefert.
»Lernt man das in der Gesellschaft von Vampiren?«, fragte sie mit einem Lächeln, ein Versuch ihre eigene Unsicherheit zu überspielen. Dorian lächelte traurig. Es schmerzte ihn, das erkannte sie. Natürlich sagte er es nicht. Es blieb sein Geheimnis.
»Man lernt so vieles, Jane«, seufzte er. »So vieles und man braucht so lange, um es zu verstehen.«
Er nippte kurz an seinem Cocktail, stellte ihn ab, entschuldigte sich und ließ sie allein. Kurz drehte er sich noch einmal zu ihr um, dann ging er fort.
Was quält dich, Dorian Vane? Wie kann ich dir helfen? Unweigerlich kamen ihr diese Gedanken. Was konnte es sein, dass einen so selbstbewussten, erfolgreichen jungen Mann wie ihn derart beschäftigte?
»Haben Sie sich gut unterhalten?« Veyron Swifts plötzliche Anwesenheit schnitten ihre Gedanken abrupt ab. In seiner Frage klang eine ungewöhnliche Schärfe mit.
»Ja«, gab sie zu, vollkommen ehrlich. »Er ist ein feiner Mensch. Ich würde gern mehr über ihn herausfinden.«
»Dann sollten wir ihm folgen, meinen Sie nicht?«
Verwirrt blickte sie Veyron an. Er hatte Dorians Cocktailglas in der Hand und drehte es hin und her. Plötzlich hielt er es Jane vor die Nase. Deutlich konnte sie verwischte Fingerspuren an dem beschlagenen Glas erkennen. Ein Pfeil nach links war dort kaum merklich zu erkennen.
»Eine geheime Botschaft. Oder eine private Aufforderung«, sprach Veyron Janes Gedanken aus, als habe er sie gelesen. Sie blinzelte, um die aufkeimende Verlegenheit zu verdrängen. Letzteres hatte sie sich in ihrer Fantasie tatsächlich bereits ausgemalt.
»Finden wir es raus«, gab sich Veyron selbst die Antwort, nahm Jane am Handgelenk und zog sie hinter sich her. Genau in die Richtung, in die Dorian verschwunden war.
»Swift! Was soll das?«, protestierte sie. Drehte er jetzt vollkommen durch? Würde sie es nicht besser wissen, könnte man ihn glatt für eifersüchtig halten.
»Denken Sie nach, Jane! Warum sind wir hier? Weil Dorian Vane öffentlich nicht alles sagen darf, was er weiß. Er will, dass wir hier etwas herausfinden. Das könnte unsere Chance sein. Neben ihm sind auch andere ZTC-Manager von der Party verschwunden. Alle recht zeitnah«, erklärte Veyron.
Sie schlugen den Weg zum Ausgang ein. Außerhalb des Partybereichs kamen sie in einen Korridor, wo ein einzelner breitschultriger Mann Wache stand. Veyron deutete Jane zu warten. Plötzlich schaute der Wachmann auf seine Armbanduhr, bog nach links ab und verschwand.
»Interessant«, murmelte Veyron. »Perfektes Timing. Was für ein Zufall, dass er genau in dem Moment weggeht, als wir hier eintreffen, nicht wahr?« Veyron zog Jane in den vorher bewachten Bereich. Sie hatten ein kurzes Stück Korridor vor sich, links und rechts Türen. Veyron probierte eine nach der anderen aus. Jede schien abgeschlossen. Was sollten sie hier? Vielleicht hatte Veyron Dorians Botschaft missverstanden.
Mit seinen Adleraugen inspizierte er jedoch die Wände, tastete sie ab, bis er ans Ende des Korridors kam.
»Er ist kürzer als alle anderen Korridore auf diesem Stockwerk«, stellte er schnell fest. Er hob nur kurz die Augenbrauen, dann taste er die Wand ab. Mit einem Schnalzen der Zunge trat er zurück. »Was sehen Sie?«
Die Frage traf Jane vollkommen unvorbereitet. Sie versuchte sich zu konzentrieren und starrte auf die dunkle Tapete. »Eine Wand?«, fragte sie verunsichert.
Veyron nahm es jedoch mit einem Seufzen zur Kenntnis. »Achten Sie auf das Tapetenmuster.«
Sie kniff die Augen zusammen, starrte die Wand genauer an, konnte jedoch nichts weiter erkennen als hellgrau bemalte Raufasertapete.
»Ich sehe da gar nichts, Veyron.«
Veyron seufzte, klopfte mit dem Finger gegen die Wand. »Werfen Sie einen Blick auf die Musterung der Tapete. Sie wird von einer dünnen Linie unterbrochen. Man könnte meinen, die rührt daher, weil sich an dieser Stelle zwei Tapetenbahnen treffen. Folgen Sie der Linie jedoch genauer, werden Sie feststellen, dass sie zwanzig Zentimeter unterhalb der Decke plötzlich aufhört und sich einen Meter in horizontaler Weise fortsetzt, ehe sie wieder im perfekten rechten Winkel ins Vertikale übergeht.«
Jetzt wo er es sagte, bemerkte sie es auch. War das etwa eine Tür? Veyron untersuchte die Wand genau. »Die hellgraue Farbe ist von Vorteil, wenn man versucht, Fingerabdrücke zu verbergen. Allerdings hinterlassen Finger immer eine Fettspur, welche die Farben eindunkelt. Zwar nur minimal, aber für das geübte Auge dennoch erkennbar.«
Ohne Zögern tippte er an die obere rechte Ecke der vermeintlichen Geheimtür. Augenblicklich sprang sie einen Spalt weit auf, es klackte. Die Tür schob sich automatisch zur Seite, gab den Blick auf einen kleinen Raum frei, wo sich eine weitere Tür befand; ein Geheimgang!
»Ihr neuer Freund ist ein Mann voller Überraschungen, Willkins«, meinte Veyron und trat in den kleinen Zwischenraum. Sie folgte ihm sofort. Kaum trat sie über die Schwelle, schloss sich die Geheimtür wieder, während sich die zweite Tür öffnete. Sie konnte nichts anderes als staunen.
Ein schneller Blick hinaus in den Flur, der sich ihnen nun offenbarte, verriet, dass sie sich in einem offenbar geheimen Teil des Zaltic-Towers befanden.
»Wozu brauchen die Vampire in ihrem eigenen Turm einen Geheimbereich?«, fragte sie Veyron flüsternd.
»Die Zaltianna Trading Company mag zwar von Vampiren geführt werden, ist jedoch immer noch eine in der Öffentlichkeit agierende Firma. Zaltic und die seinen haben einen Bereich einbauen lassen, den weder Geschäftspartner noch Journalisten oder Spione besuchen können. Wir befinden uns tief im Kern des Towers, bewacht von Wärmebildkameras, Abhöranlagen oder gar Scharfschützen auf den Nachbardächern.« Selbst Veyron wagte hier nur ganz leise zu reden.
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