Vane nickte. »Darin sind wir uns einig.«
»Sie haben die Frage immer noch nicht beantwortet«, hakte Jane nach. Sie wollte es genau wissen. War Vane ein Monster?
»Nein, ich bin kein Vampir, Constable. Leider bin ich vollkommen menschlich. Aber vielleicht, eines Tages, wenn mich die Elite als würdig befindet, erhalte ich dieses Geschenk.«
»Ein Geschenk?«
»Ja, Constable. Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Wenn Sie jedoch interessiert sind, werde ich Ihnen gerne mehr erklären.«
»Später vielleicht«, sagte Gregson. »Mister Vane, wissen Sie, ob Torrini Feinde hatte?«
Nun musste Vane lächeln, ehrlich und amüsiert. Sogar Jane kam ein Schmunzeln aus. Kannte man die ZTC, war diese Frage an Naivität nicht zu überbieten.
»Tausende, sogar Abertausende, Inspector. Vielleicht sollten Sie mit Lady Barstowe reden, wie sie sich im Jahre 1798 gegen eine Horde blutrünstiger Vampirjäger zur Wehr setzte. Jeder im Direktorium musste schon mehrmals um sein Leben kämpfen. Vampire haben immer Feinde, überall auf der ganzen Welt.«
Gregson schien einzusehen, wie lächerlich seine Frage war. Deshalb bohrte er auch gar nicht mehr weiter nach.
»Wenn Sie mich fragen, wurde Emiliano Opfer von Vampirjägern. Ich weiß, dass käuflicher Sex eine seiner Schwächen war — schon seit Jahrhunderten. Vielleicht hat sich eine Vampirjägerin als Prostituierte verkauft. Professionelle Jäger besitzen ein hervorragend ausgebildetes, blitzartiges Reaktionsvermögen. Sie sind die größte Gefahr für einen Vampir«, meinte Vane. Er ging um seinen Schreibtisch herum, öffnete eine Schublade und holte vier Tickets heraus.
»Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen, wie es scheint. Ihr weiter Weg und die wertvolle Zeit waren wohl leider vergeblich. Darf ich Ihnen zum Abschied jedoch eine Entschädigung anbieten?«
Er schob die Karten über den Tisch in ihre Richtung. Wie fies , dachte Jane. Jetzt zwingt er uns, aufzustehen . Ja, dieser Vane verstand es, seine Macht ganz subtil auszuspielen. Ehe Gregson den Schreibtisch erreichte, trat Jane vor und nahm die Karten an sich.
»Eintrittskarten? Für welches Konzert?«
»Für eine Party, Constable. Für den Inspector, für Sie und zwei Begleitpersonen. Am Dienstag, hier im Zaltic-Tower. Unsere Firma feiert ihr dreihundertfünfzigstes Bestehen. Normalerweise verschenken wir diese Karten an Geschäftspartner, Politiker, Medienvertreter oder Stars. Ich hoffe, Sie akzeptieren die Einladung. Sie werden den Abend sehr aufschlussreich finden.«
In einer Geste, Veyrons ganz ähnlich, faltete Vane die Hände. Jane verstand sofort: Er durfte nicht alles sagen, was er wusste. Auf der Party ergäben sich vielleicht bessere Gelegenheiten, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen.
»Vielen herzlichen Dank, Mister Vane«, sagte Jane und nickte ihm zu.
Ein warmes Lächeln flog über seine Lippen. »Nennen Sie mich Dorian, Constable.«
Gregson bedankte sich ebenfalls. Auch er hatte die Absicht Vanes durchschaut. Der junge Manager begleitete sie beide bis zum Aufzug. Sie verabschiedeten sich, wobei Gregson versprach, Vane über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten.
Den ganzen Weg nach unten sprachen die beiden Polizisten kein Wort mehr miteinander. Es bestand die nicht unrealistische Gefahr, dass sie belauscht wurden. Erst als sie das Gebäude verlassen hatten, wagte Gregson wieder zu sprechen.
»Ich brauche Veyron, Jane. Ich brauche ihn sofort! Eine Party voller Vampire? Da muss er mit!«
Sowas befürchtete sie schon die ganze Zeit. »Er hat gesagt, dass er in achtundvierzig Stunden wieder hier sein will. Das wäre gerade noch rechtzeitig«, ließ sie den Inspector wissen. Gregson nickte hastig. Sie stiegen ins Auto und schlossen die Tür. Er atmete einmal tief durch, klopfte ungeduldig gegen das Lenkrad, während sich seine Gedanken sortierten.
»Wir sind dabei, etwas ganz Großes aufzudecken, Jane. Diesmal könnte es wirklich gefährlich werden. Vampire, die ZTC, womöglich noch eine Verschwörung, und alles in einem Topf? Das ist ein Hexenkessel, der jeden Moment hochgehen kann.«
»Wir kriegen das hin, Bill.« Davon war sie ehrlich überzeugt. Das Einzige, was sie im Moment wirklich störte, war die Tatsache, dass sie dafür erneut mit Veyron zusammenarbeiten musste.
Es war gerade Mittag, als Tom durch den Spalt des Lindenstamms in Fort William trat und auf der Einsamen Insel landete. Von dort ging es mit einem einzigen Schritt unter den speziell markierten Astbogen nach Fleutian. Munterseelenallein stand er nun auf der kleinen Insel, friedlich schwappten die Wellen des flachen Meeres gegen die schroffen Felsen. Von einem Moment auf den anderen brach jedoch das Unheil über ihn herein: Ein schriller Schrei, dann ein tosender Sturm. Noch ehe er einen Gedanken an das Daring-Schwert richten konnte, packten ihn messerscharfe Klauen an den Schultern und schleuderten ihn durch die Luft. Der Aufprall auf den Felsen der kleinen Insel trieb ihm die Luft aus der Lunge, raubte ihm fast die Besinnung. Beinahe glaubte er zu ersticken. Mit geweiteten Augen suchte er nach dem Angreifer, fand jedoch nur einen riesigen Schatten, der sich blitzartig über ihn senkte. Adlerklauen schnappten nach ihm, erwischten seine Beine. Erneut wurde er in die Luft gehoben und fortgeschleudert. Und abermals raubte ihm die harte Landung auf den Felsen fast die Besinnung. Keuchend rang er nach Luft. Panisch blickte er sich um. Wo war sein Feind, wo war er?
»Professor!« Er wollte schreien, brachte aber nur ein armseliges Winseln zustande. Doch es genügte. Sofort materialisierte sich das Daring-Schwert in seiner Faust, das verschlungene Saphir-Muster in der Klinge schimmerte. Im nächsten Moment peitschte ein ohrenbetäubendes Kreischen auf ihn ein. Eine Wand aus Luft traf ihn mitten im Gesicht, als wäre jemand in der Lage, einen Sturm zu konzentrieren und auf ihn zu werfen. Tom wurde umgeblasen wie ein Strohhalm. Beinahe hätte er sein Zauberschwert fallen gelassen. Immerhin entdeckte er nun seinen Gegner — besser gesagt, seine Gegnerin. Ein paar Meter über ihm schlug eine Harpyie mit ihren gewaltigen Schwingen, fauchte und zischte bösartig. Dann stieg sie höher, offenbar für einen neuen Angriffsflug.
Von Harpyien hatte Tom bisher immer nur gehört, mit Ausnahme der verdorbenen Züchtung der Dunkel-Harpyien, die der Dunkle Meister vor Jahren in Ta-Meri einsetzte. Doch seine Feindin hatte mit diesen abscheulichen Kreaturen kaum etwas gemeinsam. Die Harpyie über ihm besaß einen menschlichen Frauenkörper, dessen Arme sich in riesige Flügel verlängerten. Tom schätzte, dass sie die Spannweite eines Kleinflugzeugs haben musste. Ihre schwarzen Federn schimmerten je nach Bewegung in allen Farben des Regenbogens, mal bläulich, mal grünlich, mal rötlich. Knapp über ihrem Gesäß wuchsen lange Schwanzfedern aus ihrem Körper, was der Harpyie trotz des menschlichen Zentrums ein sehr vogelartiges Aussehen verlieh.
»Hey!«, rief er der Harpyie zu. »Ich bin Tom Packard! Ich bin hier, um Angel zu treffen!« Immerhin konnte er ja versuchen mit diesem Wesen zu kommunizieren. Er hoffte nur, dass die Harpyie nicht irgendein hirnloses menschenfressendes Monster war. Mit den Dunkel-Harpyien hatte er keine guten Erfahrungen gemacht.
Eine ganze Weile wurde er von der Vogeldame umkreist, ehe sie blitzartig aus dem Himmel niederschoss, in einem kunstvollen Schwung abbremste und auf der Spitze des nächsten Astbogens der Linde landete — in sicherer Entfernung zum Daring-Schwert.
Jetzt endlich konnte Tom sie näher betrachten. Ihr Gesicht war zweifellos menschlich, ihre gelben Augen die eines Adlers, wachsam und streng. Anstelle von Haar zierten lange schwarze Federn ihr Haupt, die im Moment wie Stacheln in die Luft standen. Ihr ganzer Körper war von einem feinen bräunlichen Federkleid bedeckt, das lediglich Hals und Kopf aussparte, auf Brust und Bauch war es sehr viel heller. Dann fiel sein Blick auf die scharfen schwarzen Krallenbeine, die unterhalb ihrer Knie begannen. Hätte die Harpyie gewollt, sie hätte ihn mit nur einem Hieb ihrer Klauen töten können.
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