»Was willst du hier, Mensch ?«, blaffte sie ihn an. Ihre Stimme klang hell und klar.
»Ich bin hier, weil ich Angel treffen möchte, die Kommandantin von Kommando Bracket. Ich bin Tom …«
»Packard. Ja, ich habe es gehört, Mensch «, unterbrach sie ihn barsch. »Ich bin Merope, die Kundschafterin von Kommando Bracket. Niemand kommt hierher, ohne dass ich es weiß. Dein Besuch wurde nicht angemeldet!«
Für einen Moment wusste Tom nicht, was er sagen sollte. Die Nachricht, die Veyron hatte Angel zukommen lassen, war schon eine Woche alt. Aber wie hätte er sich auch vorher anmelden sollen? Einen Brief durch den Durchgang werfen mit der Aufschrift Ich komme jetzt rüber ? In seiner Verärgerung stand er kurz davor, die Harpyie genau das zu fragen. Vielleicht wollte sie ihn aber auch nur provozieren. Ihm war nicht entgangen, mit welcher Feindseligkeit sie betonte, dass er ein Mensch war.
»Du kannst Menschen wohl nicht besonders leiden, wie?«
Merope schnaubte verächtlich. »Warum sollte ich das? Ihr Menschen jagt uns Harpyien schon seit Jahrhunderten. Nur noch im Hochgebirge Achaions sind wir vor euch sicher. Ihr Menschen seid Monster! Ihr jagt und vernichtet alle anderen Wesen, die anders sind als ihr. Oder ihr unterdrückt und versklavt uns, zwingt uns euren Willen und eure Vorstellungen auf!«
Er musste schlucken, als er diese Anschuldigungen hörte. Weder konnte er sie leugnen noch bestätigen. Achaion, wo die Harpyien herkamen, hatte er nur ein einziges Mal für wenige Stunden besucht — und da keine Menschenseele getroffen.
»Nicht alle Menschen sind gleich.«
Meropes Haarfedern senkten sich und fielen ihr nun über Hals und Rücken. Offenbar kam sie zur Ruhe — oder sie hatte entschieden, Tom nicht als Gefahr zu betrachten.
»Nein, sind sie nicht. Aber die Guten unter den Menschen sind nicht die Mehrheit! Der Großteil hasst und fürchtet uns. Deshalb werden wir gejagt. Den Stamm der Podarges haben die Menschen Achaions schon ausgelöscht, und von den Aello und uns Okypetes sind auch nur noch wenige übrig.«
»Und trotzdem kämpfst du für Kommando Bracket?« Entdeckte er gerade einen Fehler in ihrer Logik? Die Antwort Meropes bestand in einem hellen, höhnischen Lachen.
»Denkst du, die Menschen sind die Mehrheit bei Kommando Bracket? Vielleicht sind sie es hier in Fleutian, aber nicht bei der Elderwelt-Armee!«
Das brachte Tom wieder ins Grübeln. Von der Elderwelt-Armee hatte er schon gehört, konnte sich darunter aber nicht viel vorstellen. Merope deutete seinen verdutzten Gesichtsausdruck falsch. Ein Lächeln, nun sehr viel freundlicher, stahl sich auf ihre Lippen. »Wie gesagt, nicht alle Menschen sind gleich. Es gibt ein paar, die keine Monster sind.«
»So wie Angel, nehme ich an.«
Erneut bestand Meropes Antwort aus schrillem Gelächter. »Du denkst, Angel ist ein Mensch? Du bist ulkig, Tom Packard.«
Einen Moment später hatte sie sich beruhigt. Sie sprang von dem Ast herunter und landete direkt vor ihm. Mit ihren langen Vogelbeinen war sie um gut einen Kopf größer als er. Instinktiv wich Tom zurück, wobei er beinahe ins Stolpern kam.
»Steck dein Schwert weg, Tom Packard, dann sei dir der Aufenthalt in Fleutian gestattet.« Ein wenig widerwillig kam er der Aufforderung nach. Es half nichts, mit einer Harpyie zu streiten und am Ende alles nur noch schlimmer zu machen. Er steckte das Daring-Schwert in seinen Gürtel, wo es sich auf der Stelle in Nichts auflöste. Merope wich einen Schritt zurück. Offenbar war sie mit Simanui-Zauber nicht vertraut. Einen Moment standen sie sich gegenüber, musterten sich. Dann stieß Merope einen krächzenden Schrei aus. Einen Moment passierte gar nichts, dann kamen plötzlich aus allen Richtungen Krähen angeflogen. Es mussten mehrere Dutzend Tiere sein. Krächzend umkreisten sie die alte Linde, um sich dort auf den Ästen niederzulassen. Merope hob ihren rechten Flügel, und prompt setzte sich eine der Krähen darauf. Behutsam streichelte die Harpyie den schwarzen Vogel mit ihren langen Federn. Die Krähe schien es zu genießen.
»Das ist Keleino«, stellte sie Tom den Vogel vor. »Die Älteste des Schwarms. Sie ist sehr intelligent.«
Wie Tom auffiel, hatte die alte Krähe kaum mehr Federn auf dem Kopf, aber ihre schwarzen Augen wirkten noch immer klar und geheimnisvoll.
»Diese Vögel sind meine Augen und Ohren. Sie sehen alles, sie hören alles. Es gibt kein Versteck, Tom Packard, an dem sie dich nicht finden«, warnte Merope ihn.
»Ich werde schon nichts anstellen«, versicherte er ihr. Merope musterte ihn streng, ehe sie nickte. Ohne Vorwarnung sprang sie in die Luft, mindestens drei Meter hoch, breitete ihre Flügel aus. Ein einziger Schlag genügte, um sie noch höher zu befördern. Tom konnte nur staunen. Hatte ihm Veyron nicht mal erzählt, dass Harpyien, genau wie Vögel, hohle Knochen besaßen?
»Was jetzt? Wohin fliegst du?«, rief er der Harpyie hinterher.
»Zur Festung. Da wirst du dich auch hinbegeben.«
»Und wie komme ich da hin? Wirst du mich tragen?«
Abermals kam als Antwort nur schrilles Gelächter. »Auf keinen Fall! Entweder du schwimmst, oder du wartest, bis ich dir ein Boot schicke.«
Es fiel ihm recht leicht, Möglichkeit Nummer zwei zu wählen.
Es verging knapp eine halbe Stunde, ehe ihn ein Krieger mit einem der alten, notdürftig zusammengeflickten Landungsboote von der Insel abholte. Auf der Heckkante hockte die alte Krähe Keleino, die ihn pausenlos anstarrte. Merope meinte es also todernst damit, Tom nicht aus den Augen zu lassen. Seine Mission, mehr über Kommando Bracket herauszufinden würde sich dadurch extrem verkomplizieren.
Schweigend brachte ihn der Krieger zu Festungsruine, wo ihn Jordi und Sarah bereits erwarteten. Die beiden jungen Menschenkrieger wirkten so begeistert wie eh und je; Jordi noch mehr als Sarah.
»Hey, Tom! Das ist ja eine Sache! Heißt das, dass du dich uns anschließt? Na, was habe ich gesagt, Sarah? Ich wusste, dass uns Tom nicht hängen lässt!«
Als das Boot nahe genug am Steg war, sprang Tom einfach zu ihnen hinüber. Er schlug Jordi freundschaftlich auf die Schulter und drückte Sarah kurz.
»Ich kann ja nicht einfach tatenlos zusehen, wenn ihr euch gegen den Dunklen Meister in die Schlacht werft. Da braucht es doch jemanden, der mit Verstand dabei ist«, behauptete Tom frech. Ein Wenig schämte er sich dafür, Jordi und Sarah die Wahrheit verschweigen zu müssen, aber zumindest war seine Aussage nicht gänzlich gelogen. Veyron hatte nicht spezifiziert, was er alles tun durfte und was nicht. Soweit es ging, würde er Kommando Bracket also unterstützen.
»Wo ist Angel? Ich muss unbedingt mit ihr sprechen«, wechselte er gleich darauf das Thema. Schlagartig wurde Jordi ernst, Sarahs Blicke zu ihm verhießen nichts Gutes.
»Sie … ist nicht hier«, druckste Jordi herum. »Eine wichtige Mission in Fernwelt, verstehst du?«
»Alles klar. Sie vernichtet die Vampire der ZTC«, sagte Tom.
Sarah weitete überrascht die Augen. »Woher weißt du das?«
In ihrer Stimme schwang ein unüberhörbares Misstrauen mit. Jordi schien zu verblüfft für irgendeine Reaktion.
»Leute«, mahnte Tom die beiden. »Es läuft die Nachrichten rauf und runter. Sie wird bereits von der Polizei gesucht.«
Ein erleichterndes Seufzen verließ Sarah. »Dann wissen nun also alle Bescheid. Die verbrecherischen Vampire sind enttarnt!«
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, sind sie nicht. Die Polizei hält die Wahrheit unter Verschluss. Owain und Ellen sind auch nicht hier, oder? Normalerweise kann euch doch nichts trennen.«
»Sie haben Angel nach Fernwelt begleitet. Dass es eine gefährliche Operation wird, war uns klar. Wir wollten alle mit, aber Angel ließ nur zwei gehen. Wir haben Strohhalme gezogen. Owain und Ellen hatten die kürzesten.« Jordis Erklärung klang betroffen. Er machte sich wirkliche Sorgen um seine Freunde. Sarah noch mehr. Ellen war ihre beste Freundin. Gemeinsam hatten sie sich der Schwarzen Horde angeschlossen und aufeinander aufgepasst, als es um Leben und Tod ging.
Читать дальше