Jetzt, keine vierundzwanzig Stunden später, war Angel wieder auf den Beinen, von der Wunde sah man nur noch die Naht. Sie ließ ihn richtig verwegen erscheinen. Angel war ein wirklicher Held. Für Helden hatte Vanessa eine Schwäche; eine ganz enorme Schwäche sogar.
Wieder nahm er einen Schluck Bier, während er auf den Fernseher starrte. Das Interview mit Doe war beendet, dafür schaltete der Sender nun zur Pressekonferenz der Polizei. Inspector Gregson und sein Vorgesetzter, Commissioner Gordon Hopkins, erläuterten Details zum Mord und zum dürftigen Ermittlungsstand. Sie bemerkte, wie Angel dabei mehr und mehr Anspannung gewann.
»Warum sagst du Arsch nicht einfach, dass der Kerl ein Vampir war?«, schimpfte er plötzlich los. Kopfschüttelnd trat er nach vorn, offenbar Willens, Gregson oder Hopkins durch den Bildschirm hindurch anzugehen.
»Ihr verdammten Lügner! Warum verschweigt ihr die Wahrheit über diese Verbrecherbande?«
»Weil man sie für Idioten halten würde, Angel«, meldete sich Owain. »Keiner würde ihnen das glauben.«
»Es könnte eine Massenpanik geben«, warf Vanessa halblaut ein. Angel schnaubte, drehte sich um und stampfte nach draußen in den Flur. Die Tür des Badezimmers flog knallend zu. Augenblicklich stand Vanessa auf.
»Lass gut sein«, meinte Ellen ernst. »Wenn er wütend ist, lässt man ihn besser allein.«
»Mir egal«, gab Vanessa zurück. Sie folgte Angel nach draußen, wild entschlossen, ihm die Sache zu erklären. Vor der Tür blieb sie einen Moment unentschlossen stehen. Ellens Warnung wurde ihr bewusst. Trotzdem. Sie hatte das untrügliche Gefühl, das er jemanden brauchte.
Vorsichtig klopfte sie. Als er nicht antwortete, öffnete sie die Tür und schlüpfte in das kleine Badezimmer.
Zitternd, das Waschbecken umklammert, starrte Angel in den Spiegel.
»Warum lasst ihr euch nur alle anlügen?«, fragte er leise, noch immer geradeaus starrend. Vorsichtig kam sie näher, berührte ihn zögerlich an der Schulter. Seine Haut fühlte sich so wunderbar sanft an.
»Niemand auf unserer Welt glaubt, dass es Vampire wirklich gibt. Selbst wenn die Beweise direkt vor einem liegen, will man es einfach nicht glauben. Veyron sagte einmal, dass die Menschen lieber eine Lüge akzeptieren als die Wahrheit, wenn die Lüge besser zum eigenen Weltbild passt. Faulheit des Verstandes, nennt er das.«
Angel schnaubte. »Dann sind die Menschen eurer Welt Narren! Eure eigene Polizei hilft der ZTC, die Wahrheit zu verschleiern!«
Vanessa kam noch näher, wollte ihn am liebsten umarmen, ihn noch intensiver berühren. Sie begriff, wie einsam er sich fühlen musste. Wie ein Sehender unter Blinden, ein Ritter im Kampf gegen Windmühlen. Sie zuckte kurz zurück, als ihr plötzlich Tom in den Sinn kam. Sie liebte ihn, das stand ganz klar fest. Aber Angel war anders als Tom. Allein in seiner Nähe zu sein war berauschend. Ihr Puls ging schneller, alle Härchen stellten sich ihr auf, wenn Angel sie berührte. Seine Aura war schlichtweg — ihr Verstand suchte nach dem richtigen Begriff — magisch.
»Wichtig ist doch nur, dass wir die Wahrheit kennen, oder? Wir kämpfen für die anderen, die nicht verstehen wollen, die belogen und getäuscht werden.« Sie musste ihn aufbauen, das spürte sie. Er brauchte sie an seiner Seite. »Wir kriegen die Bande schon noch.« Sie streichelte über seine wunderbare glatte Haut. Innerlich wurde ihr heiß.
Ein trauriges Lachen entfuhr Angels Kehle. »Du warst nicht dabei. Torrini war sehr stark; aber er ist bei Weitem noch nicht der Schlimmste unserer Feinde. Er war nur ein Lakai des Dunklen Meisters.«
Jetzt konnte sie nicht anders, sie musste ihn einfach umarmen. Seine Zweifel suchten nach Trost. Es war, als forderte er sie regelrecht dazu auf. Sie schmiegte sich an ihn.
»Ich werde dir helfen. Keine Ahnung wie, aber ich werde es tun. Ich bin dabei, ganz egal, was passiert.«
Das war ihr felsenfester Entschluss, gleichgültig, was Tom dazu sagen würde. Ihre Zukunft lag bei Kommando Bracket. Sie hatte schon gegen die Schrate der Schwarzen Horde gekämpft, sie würde schon irgendwie klarkommen.
Angel drehte sich in ihrer Umarmung um, streichelte ihr über ihre Wangen. Seine Finger waren nicht die eines Kriegers, sondern die eines Künstlers, schlank und zärtlich.
»Meine schöne tapfere Vanessa«, seufzte er. Dann küsste er sie.
Endlich, endlich, endlich! Insgeheim hatte sie schon seit drei Tagen darauf gewartet, dass es passierte. Er besaß so wunderschöne volle Lippen. Man musste sie einfach küssen. Ihr Herz raste, sie spürte, wie in ihrem Inneren eine Glut entfacht wurde, als er sie in seine Arme nahm. Angel mochte sehr schlank sein, aber die Kraft, die er besaß, glich der eines wilden Kriegers. Er wusste, was er wollte, und er nahm es sich einfach, das gefiel ihr. Ganz anders als Tom, der immer so sanft und vorsichtig war.
Ihre Lippen lösten sich wieder; leider viel zu früh.
»Wir fahren nach Schottland, noch heute Nacht«, verkündete er. Lange sah er sie an, tastete sie prüfend ab. Er streichelte wieder ihr Gesicht, fuhr über ihren Hals hinunter bis zu ihren Brüsten, berührte sie sanft und doch bestimmend.
»Hey, keine Sorge«, versicherte er ihr, »für das haben wir schon Zeit.«
Genau das wollte sie hören.
Auf der Surrey-Seite Londons stand das vielleicht höchste Gebäude der ganzen Stadt. Über dreihundertdreißig Meter hoch, ein einziger viereckiger Block, von oben bis unten mit schwarzem Aluminium verkleidet, überragte der Zaltic-Tower sämtliche andere Wolkenkratzer. Die beiden verspiegelten zylindrischen Zwillingstürme der Ramer-Stiftung, wirkten mit nur Zweidritteln der Höhe dagegen fast winzig. Wie Gut und Böse standen sie sich gegenüber, nur durch das schmutzige Wasser der Themse getrennt. Zumindest kam es Jane so vor, als sie aus dem Fenster ihres Dienstwagens blickte. Es ließ sich nicht leugnen, dass der Zaltic-Tower wesentlich mehr Eindruck machte.
»Irre, wie hoch der ist«, meinte Inspector Gregson, als er sich nach vorne beugte, um einen Blick auf die nadelförmige Spitze des schwarzen Turms zu erhaschen. Jane und er näherten sich langsam dem riesigen und durch mehrere Tore und Schranken abgeriegelten Areal des Turms. Anders als die Ramer-Stiftung, deren Zentrale sich in eine Reihe anderer Bankentürme einreihte, stand der gewaltige Zaltic-Tower solitär, umgeben von zweistöckigen Häuserzeilen an der Rotherhithe Street. Jane erinnerte sich noch gut daran, welchen Aufschrei es vor rund zwanzig Jahren gab, als die Zaltianna Trading Company ein riesiges Areal direkt am Themse-Ufer erwarb und den gewaltigen Tower errichtete.
»Wie der Turm von Barad-dûr«, grummelte Jane. In diesem Fall meinte sie es auch so. In wenigen Minuten würden sie einen der höchsten Tiere der ZTC treffen, sehr wahrscheinlich einen Vampir. Wenn sie das Falsche fragten, könnte es um Leben und Tod gehen. Zwei einfache Menschen in einem Tower voller Vampire. Wir müssen verrückt sein , dachte Jane. Alles nur für ein paar Informationen über Torrini. War es das wirklich wert?
Sie bogen in Richtung Themse ab und erreichten die Tore des Zaltianna-Geländes, wo die Wachmänner lange telefonierten, ehe man sie zum Parkplatz vor der Lobby durchließ. Ihr silbergrauer Dienst-BMW nahm sich gegen all die riesigen Geländewägen, Sportwägen und anderen Luxuslimousinen regelrecht mickrig aus. Als sie ausstiegen, trafen sie auf einen sonnenbebrillten Manager, der sie ungehalten anfuhr, dass es für das Personal die Tiefgarage gäbe.
»Wir sind dienstlich hier«, ließ Gregson den Mann mit einem kurzen Zeigen seiner Dienstmarke wissen. Sonderlich viel Eindruck vermochte er damit nicht zu schinden.
»Die Polizei? Lustig«, mokierte der Typ sich. Er stieg in seinen dreihunderttausend Pfund teuren Sportwagen und raste mit brüllendem Motor davon. Jane schüttelte den Kopf.
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