Einen Moment dachte Veyron über etwas nach. Plötzlich bückte er sich und untersuchte den Boden. Verwundert schauten ihm Tom und die vier Polizisten zu. Nach einer Weile schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Eine hauchdünne schwarze Linie zog sich über das Parkett, etwa zwei Meter lang und schnurgerade. Ein Blick zur Decke verriet, dass sich dort der gleiche Strich befand.
»Wie bei Lautenthal«, murmelte Veyron kaum hörbar. Er stand auf, rieb sich die Hände und kehrte zu Torrinis schaurigen Resten zurück.
»Einen Vampir tötet man nicht so leicht. Es muss außergewöhnlich schnell gegangen sein und seine Mörderin war obendrein sehr stark. Haben wir die Mordwaffe?«
Nun war es an Brown, ein klein wenig zu triumphieren. Sie hielt einen Plastikbeutel mit einem verkohlten Holzpflock hoch.
»Steckte zwischen den Rippenknochen. Wie bei Dracula«, gluckste sie, tippte sich dabei mit weit ausholender Geste auf die Brust. »Mitten ins Herz.«
Veyron nahm ihr den Beutel ab und drehte ihn von einer Seite zur anderen, bis er den Pflock genauestes untersucht hatte.
»Inspector«, sagte er schließlich an Gregson gewandt. »Ich brauche unbedingt die Aufzeichnung des Notrufs. Unser weiblicher van Helsing hat sich Torrini als Prostituierte angeboten, ihn beim Liebesspiel gefesselt und dann gepfählt. Wir suchen nach einer über einmeterachtzig großen Blondine, außergewöhnlich hübsch, sehr schlank; Modelmaße. Aber lassen Sie sich nicht täuschen: Sie ist schnell wie ein Gepard und stark wie eine Löwin.«
Tom schluckte. Ohne Zweifel beschrieb Veyron gerade Angel. Er wusste ja, dass sie die ZTC bekämpfte. Doch erst jetzt wurde ihm bewusst, wie ernst es ihr dabei schien.
»Ich bin überzeugt davon, dass sie die Polizei informiert hat, mit dem Ziel, dass Torrinis Ermordung publik wird. Anderenfalls hätte die ZTC sein Ableben verschwiegen und die Sache selbst geregelt. Zu guter Letzt …« Veyron unterbrach sich. Nachdenklich warf er einen Blick auf die dünne schwarze Linie am Boden. »Nun, zu guter Letzt ist sie imstande, sich aus geschlossenen Räumen zu teleportieren.«
»Ihnen brennt doch der Hut«, polterte Palmer auf der Stelle los. Brown musste kichern und sogar Jane schüttelte den Kopf.
»Veyron, ich habe ja schon viel gehört, aber teleportieren ?«
Mit Daumen und Zeigefinger drückte sich Veyron die Augenlider zu, während er tief durchatmete. Tom wusste, wie sein Patenonkel innerlich die Fantasielosigkeit der versammelten Polizisten beklagte.
»Mich wundert, liebe Willkins, dass Sie den Schattenkönig so schnell vergessen haben. Er kann sich teleportieren. Sie haben es am eigenen Leib zu spüren bekommen«, schalt Veyron sie.
Sofort fasste sich Jane mit der Rechten an die Hüfte. Für einen Sekundenbruchteil verzerrte ein sichtlicher Schmerz ihr Gesicht. »Habe ich nicht«, kam ihre kleinlaute Antwort.
Tom schluckte. Der Schattenkönig. Seines Zeichens oberster Dämon und rechte Hand des Dunklen Meisters. Vor drei Jahren hätte er Jane beinahe umgebracht. Ihn konnte man nicht vergessen.
»Sehr schön. Ich sage nicht, dass unsere Mörderin die gleichen Fähigkeiten besitzt wie der Schattenkönig. Aber zweifellos ist hier irgendeine Form von Magie im Einsatz. Wie sonst erklären Sie sich die von innen verschlossenen Fenster und Türen, sowie das gleichzeitige Verschwinden der Mörderin? Es gibt hier weder Falltüren noch versteckte Fluchtwege in den Wänden. Warum hat sich unsere schöne Mörderin nicht gleich auf diese Weise hinein teleportiert? Ja, Sie haben mich zu Recht hinzugezogen, Bill. Das ist alles sehr vielversprechend.«
Tom kam nicht darum herum, eine fast schon kindliche Begeisterung bei Veyron auszumachen. Gregson schien mit der Analyse von Toms Patenonkel jedoch nicht viel anfangen zu können.
»Veyron, wen suchen wir eigentlich? Wer ist diese Frau? Eine Hexe? Ein anderer Vampir?«
»Das vermag ich Ihnen nicht zu sagen, Inspector. Eines steht zweifelsfrei fest: Sie ist nicht von dieser Welt.«
Ohne weitere Erklärung wandte er sich zum Ausgang, enteilte dem Tatort forschen Schrittes. Tom, Jane und Gregson hatten Mühe, mit ihm mitzuhalten. Wo immer Veyron hinwollte, es schien dringend zu sein. Unterwegs tippte er blitzschnell auf seinem Smartphone herum.
»Veyron, wie geht’s jetzt weiter? Das hier lässt sich nicht mehr vertuschen«, rief Gregson. In der Tat. Im Freien hatten sich schon zahlreiche fremde Autos eingefunden, und Menschen mit Fotoapparaten, Kameras und gezückten Smartphones drängten sich an die uniformierten Constables heran.
»Haben Sie die Presse informiert?«, fragte Veyron kalt.
»Nein. Natürlich nicht!«
»Dann war es unsere Mörderin. Jemand will, dass der Mord an Torrini publik wird. Lassen Sie niemanden zum Tatort, keiner darf die Leiche zu Gesicht bekommen. Schaffen Sie Torrini sofort in die Pathologie. Rufen Sie meinen Freund Strangley an, der kennt sich mit solchen Fällen aus. Das Übliche eben.«
»Und was sagen wir den Journalisten?«
»Geben Sie eine Pressekonferenz, erzählen Sie die Wahrheit. Das Torrini erstochen wurde, von einer mutmaßlichen Prostituierten. Motiv unbekannt, Täterin auf der Flucht. Hochgewachsen, schlank und blond. Mehr wissen Sie zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht.«
Schnurstracks schlug Veyron den Weg zu Willkins Wagen ein. Die anderen folgtem ihm.
»Kümmern Sie sich um einen Termin bei der Zaltianna Trading Company. Durch diesen Mord wird die Company zu einem öffentlichen Statement gezwungen sein. Tun Sie ganz einfach Ihre Arbeit, Inspector«, meinte Veyron zum Abschied noch. »Willkins, fahren Sie Tom und mich bitte zurück in die Wisteria Road.«
Gregson und Jane nickten, wandten sich ab, um noch einige Details zu besprechen. Tom und Veyron stiegen in den Wagen. Die ganze Zeit über hatte Veyron auf seinem Smartphone herumgetippt, jetzt endlich steckte er es weg.
»Gut, sobald wir in 111 Wisteria Road sind, brechen wir nach Schottland auf. Du musst nach Elderwelt reisen, zurück nach Fleutian«, entschied Veyron.
Sofort schüttelte Tom den Kopf. »Veyron, das geht nicht. Montag habe ich meine ersten Vorlesungen. Ich muss lernen und mich vorbereiten.«
»Wimille und ich haben schon alles mit dem Dekan der Universität geregelt. Du hast die Lesungen abgesagt wegen einer Studienreise.«
»Was? Veyron, das ist mein Studium, nicht das Ihre!«
»Menschenleben stehen auf dem Spiel, Tom! Niemand kann so einfach in die Privatgemächer der ZTC-Oberen einbrechen und einen Mord begehen. Ganz sicher nicht irgendeine kleine Söldnertruppe mit einer magischen Anführerin. Es steckt viel mehr dahinter. Ich brauche dich jetzt in Fleutian und nicht in den Hörsälen von Oxford. Das muss warten.«
Beinahe hätte Tom gesagt, dass es nur Vampire waren, die da ermordet wurden. Das war jedoch nur ein scheußlicher spontaner Gedanke, der sich sofort wieder verflüchtigte. In den letzten fünf Jahren hatte er gelernt, dass das Leben anderer genauso viel wert war – auch wenn es keine Menschen waren. Selbst wenn momentan die ZTC-Anführer betroffen waren — ihre Feinde — so lag die Wahrscheinlichkeit hoch, dass durch weitere Attacken oder Racheaktionen der ZTC Unschuldige ums Leben kämen. Dabei kam ihm noch ein weiterer Gedanke.
»Woher wissen Sie eigentlich, dass Angel hinter diesem Attentat steckt? Es könnte doch auch irgendeine x-beliebige Vampirjägerin gewesen sein.«
Veyron hauchte die Seitenscheibe an und kritzelte mit dem Finger ein kleines Symbol in den Beschlag: Einen kleinen, stilisierten Engel.
»Das Grabmal der Engel«, keuchte Tom. »Sie haben es irgendwo gesehen. Auf dem Pflock, nicht wahr?«
»Tief eingraviert auf der Kopfseite, wo es am ehesten von der Hitze geschützt ist, wenn das Vampiropfer zu Asche vergeht. Jemand wollte, dass wir wissen, wer für den Tod Torrinis verantwortlich ist. Das ist einer der Gründe, warum du nach Fleutian zurückkehren musst. Finde alles über Angel heraus, über ihre Motive, den Aufbau von Kommando Bracket und welche Aktionen sie als nächstes plant. Ich sorge dafür, dass deine Informationen an mich weitergeleitet werden, ganz geheim und unauffällig.«
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