»Na gut, ich halte mich bereit. Aber nur an den Wochenenden!«
»Da bin ich auch dabei«, warf Vanessa ein. Sie zog Tom ganz nah zu sich heran. Die Aussage Veyrons, dass Angel Tom offenbar schöne Augen machte, befeuerte ihre Entschlossenheit, ihn nicht wieder allein nach Elderwelt reisen zu lassen.
»Das hatte ich schon befürchtet, Miss Sutton. Nun denn, dann eben Tom und Sie. Doch nun fahren wir erst einmal nach Hause. Nach allem, was wir in Abulon und Fleutian in Erfahrung bringen konnten, erscheinen mir tiefergehende Nachforschungen unerlässlich.«
»Veyron, was ist mit dem Grabmal der Engel?«
»Alles zu seiner Zeit, Tom. Alles zu seiner Zeit.«
Wie sich herausstellte, parkte der Käfer noch immer unberührt neben dem alten Bagger. Sie verstauten ihre Rucksäcke und stiegen ein. Tom startete den Motor. Jetzt ließen sie Elderwelt erst einmal hinter sich, doch bald würde er zurückkehren.
Angel wartete auf ihn.
Die Rückkehr in die Wisteria Road gestaltete sich problemlos. Zu Toms Erleichterung waren sie rechtzeitig zurückgekehrt, sodass er die Willkommenswoche an der Universität nicht verpasste. In aller Ruhe konnte er seine neue Unterkunft besichtigen und notdürftig einrichten. Sie lag in einem kleinen Mehrfamilienhaus am Stadtrand, wo er eines von drei Zimmern für sich allein hatte. Die anderen beiden gehörten George Rand und Lisa Harris, Kommilitonen aus den USA. George war in seinem Alter und Lisa zwei Jahre älter. Beide waren nur selten zuhause. An der Uni schrieb er sich in seine ganzen Kurse ein und lernte das eine oder andere zu den ganzen Abläufen. Von nun an gab es keinen Veyron mehr, der ihn mitten in der Nacht für irgendwelche verrückten Exkursionen weckte. Andererseits stellte sich recht schnell eine Art von Heimweh ein. Bereits jetzt vermisste er die Abenteuer. Mit Vanessa telefonierte er jeden Abend über Skype. Von dem, was in der Wisteria Road passierte, wusste sie allerdings nichts. Es kümmerte sie nicht weiter, was Veyrons Nachforschungen machten. Immer wieder kam sie auf Kommando Bracket zu sprechen. Genau wie er wunderte sie sich, wie Jordi und die anderen überhaupt von dieser Organisation erfahren hatten.
Freitagnachmittag ließ Tom das altehrwürdige Oxford hinter sich und fuhr zurück nach Harrow. Immer wieder kam ihm „nach Hause“ in den Sinn, wenn er darüber nachdachte. Es fühlte sich fast ein wenig seltsam an, als er abends die schrägen Stufen zur Haustür nahm. Diesmal steckte er nicht wie selbstverständlich den Schlüssel ins Schloss, sondern drückte zuerst die Klingel. Erst nachdem sich niemand rührte, sperrte er auf. Ein wenig schuldbewusst, weil er sich die ganze Woche nicht bei Veyron gemeldet hatte, stieg er hoch zu dessen kleinem Arbeitszimmer. Es wirkte ungewöhnlich aufgeräumt. Keine Bücherstapel, keine mit Messern und Dartpfeilen an die Wand gespickte Papierfetzen. Das magische Daring-Schwert mit zwei verbogenen Nägeln über dem Fenster festgemacht, der Schreibtisch sauber. Keine verbrannten Pülverchen, keine Laborröhrchen, keine zerfetzten Buchseiten. War Veyron ausgeflogen? Auch unten im Wohnzimmer fand Tom alles feinsäuberlich aufgeräumt vor. Die Bücherregale und sogar die Couch hatten ihren Weg dorthin zurückgefunden. Die Wände für das Labyrinth standen jedoch weiterhin in Bereitschaft. Das Einzige, was fehlte, war Veyron Swift. In der Küche fand Tom schließlich eine Nachricht von Mrs. Fuller, der liebenswerten Nachbarin.
Ich konnte nicht anders, sorry.
LG, Sarah
Aha, daher also die ungewohnte Ordnung. Offenbar war Veyron schon seit Tagen weg. Die pausbackige Mrs. Fuller schaute ja hin und wieder vorbei, kochte für sie beide oder richtete Tom regelmäßig das Frühstück her. Wenn das Haus leer war, konnte sie nicht widerstehen, aufzuräumen. Das schien ein innerer Zwang von ihr zu sein. Frech musste Tom zugeben, dass er sich noch nie darüber beschwert hatte, anders als Veyron.
»Mrs. Fuller, alles hier hat seinen festen Platz, auch wenn Sie das nicht verstehen. Jedes Teil, jeder Müll, jeder Fetzen ist aus ganz bestimmtem Grund genau da, wo er sich eben befindet! Sie bringen mir alles durcheinander!«, wies Veyron sie stets aufs Neue zurecht. Tom glaubte sogar, dass es Mrs. Fuller in Wirklichkeit eine diebische Freude bereitete, Veyron mit ihrem Ordnungsfimmel aufzuregen.
Seufzend kehrte Tom ins Wohnzimmer zurück, setzte sich auf die Couch. Sofort spürte er die alten Federn, die sich ihm ins Sitzfleisch bohrten. Mann, dieses Monstrum würde er sicher nicht vermissen. Auf dem kleinen Beistelltisch lag ein einziges altes Buch. Er nahm es in die Hand und drehte es herum.
Die Elfenwelt-Trilogie von John Rashton . Unweigerlich musste Tom schmunzeln. Es war jener Fantasy-Schmöker, der Veyron vor inzwischen zwölf Jahren auf die Spuren Elderwelts führte. Seltsam , dachte Tom. Ich habe es bis heute noch nicht gelesen . Vielleicht fange ich heute mal damit an.
Er schlug das Buch auf und begann mit der Einleitung von Mr. Rashton, die sprachlich sehr komplex ausfiel und viele Erklärungen zu den nachfolgenden Geschichten enthielt. Nach knapp fünfzehn Minuten schlief Tom ein, nicht weiter als sechs Seiten Einleitung.
»Aufwachen, Tom. Es gibt Arbeit!«
Schnell wie eine Sprungfeder war er auf den Beinen, als er Veyrons dunkle Stimme hörte.
»Wie spät ist es?«
»Zwei Uhr morgens.«
»Was? Dann hab’ ich richtig lang geschlafen. Was ist los?«
»Ein Mord. Gregson verlangt nach uns.«
Tom schüttelte benommen den Kopf. Seine rechte Wange fühlte sich taub an. Er musste auf dem Buch eingeschlafen sein. Um munterer zu werden, verpasste er sich eine Ohrfeige.
»Mein Wagen parkt vor der Tür.«
»Schlaftrunken ans Steuer eines übermotorisierten VW-Käfers, mit einem halben Bataillon des CID im Nacken? Nein, lieber nicht. Wir steigen besser bei Willkins ein.«
Jane! Von ihr hatten sie seit dem verkorksten Dinner im Atelier nichts mehr gehört.
Rasch folgte er Veyron zur Tür. Zwei Polizeiwagen standen unten auf der Straße, beide mit Blaulicht. Jane Willkins saß am Steuer des vorderen. Ein frostiges »Einsteigen«, war alles, was sie sich als Begrüßung abringen konnte. Tom strafte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. Er konnte ja wirklich nichts für Veyrons Eskapaden! Ohne weitere Worte fuhren sie los.
»Wollen Sie uns nicht aufklären, Willkins, oder spielen Sie nach zehn Tagen lieber weiterhin die Beleidigte?«, fragte Veyron sie nach ein paar Minuten unangenehmen Schweigens.
»Sie wussten es, nicht wahr? Sie wussten es die ganze Zeit!«, giftete sie ihn schließlich an.
»Wenn Sie die vorgetäuschten Gefühle Ihres Verflossenen meinen: Nein, erst zu dem Zeitpunkt, als ich ihm gegenübersaß. Es bestand zwar eine dreizehnprozentige Chance, dass ich mich irre, aber …«
»Sie sind ein Mistkerl, Veyron Swift!« Sie brüllte es regelrecht. Was folgte, waren ein paar weitere Minuten Totenstille.
»Schelten Sie mich ruhig, Willkins, wenn Sie glauben, dass Ihnen das guttut. Machen Sie mich jedoch nicht für die charakterlichen Defizite Ihrer Liebschaften verantwortlich«, gab Veyron schließlich halblaut von sich. »Es sind deren Fehler, nicht die meinen!«
Zum allerersten Mal schien er sich tatsächlich von Janes Vorwürfen angegriffen zu fühlen. Für gewöhnlich steckte er Beleidigungen mit einem schrägen Lächeln weg. Bei Jane war das anders, ihre Kritik nahm er sich tatsächlich zu Herzen. In den letzten Jahren hatte er ihr zu liebe einige seiner Marotten abgelegt. Das Tragische an der Sache war, dass Jane dies nicht erkannte. Sie glaubte immer noch, das läge allein an Toms positivem Einfluss.
»Leute«, rief Tom, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. »Wir haben einen Fall. Konzentrieren wir uns lieber darauf.«
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