Angel schmunzelte, sie sah ihm wahrscheinlich sein plötzliches schlechtes Gewissen an.
»Schon okay. Viel Glück bei eurer Suche.«
»Danke. Deinen Leuten und dir auch viel Glück.«
Er widerstand dem inneren Drang, ihr einen Abschiedskuss zu geben. Mit einem verunsicherten Lächeln trat er hinaus in den Korridor. Er konnte jedoch unmöglich gehen, ohne ihr noch einmal in die Augen zu schauen. Sie lächelte, fast ein wenig traurig. Kann ich auf dich zählen , schien sie ihn zu fragen. Klar, ich werde da sein , lautete seine stille Antwort — und sein felsenfester Entschluss.
Mit dem Boot ging es zurück in Richtung Linde. Inzwischen schickte sich die Sonne an, hinter dem Horizont zu verschwinden. Es musste also bereits Abend sein. Sie hatten das Hauptquartier von Kommando Bracket kaum verlassen, als Tom plötzliche Kopfschmerzen heimsuchten. Ihm wurde schwindelig. Instinktiv musste er ein paar Mal tief durchatmen. Ihm kam es fast so vor, als wachte er nach einer durchzechten Nacht auf.
»Oh, Mann. Geht’s euch auch so?«
»Nein«, kam sofort Veyrons Antwort, auch Vanessa fühlte sich ganz okay. Eine Weile sagte niemand etwas. Toms Gedanken galten noch immer einzig und allein der schönen Angel.
»Was meinen Sie? Haben wir in Kommando Bracket einen Verbündeten gefunden? Glauben Sie, wir können hierher zurückkehren?«
Veyron schaute ihn eine Weile forschend an, ehe er antwortete.
»Ich zweifele nicht an der aufrichtigen Haltung unserer jungen Freunde, wenn es das ist, was du wissen willst, Tom. Jordi, Ellen, Sarah und auch Owain meinen es mit ihrem Kampf für die gute Sache rundheraus ehrlich. Ich denke, sie sprechen auch für all die anderen Krieger, die wir gesehen haben — die wirklichen und den kunterbunten Haufen, der gerne dazugehören möchte.«
In Toms Ohren schwang da eine gehörige Portion Skepsis in der Stimme seines Patenonkels mit.
»Sie haben Angel nicht kennengelernt! Sie meint es genauso ehrlich wie ihre Krieger!«, schimpfte er.
Veyron hob überrascht die linke Augenbraue. »Ich habe Angel mit meiner Antwort nicht ausgeschlossen, Tom.«
Er wollte eben etwas erwidern, als ihm bewusst wurde, dass Veyron recht hatte. Diese zornige Reaktion kam ihm viel zu voreilig über die Lippen. Vielleicht lag das an den Kopfschmerzen. Kleinlaut entschuldigte er sich und schob es auf seine angeschlagene Gesundheit. Immerhin ließen die Schmerzen allmählich nach, und auch der Schwindel verflog mit jedem weiteren Atemzug.
»Schade, dass wir diesen Ritter nicht kennenlernen durften«, seufzte Vanessa nach einer Weile. Die ganze Zeit hatte sie verträumt aufs Wasser gestarrt.
»Welchen Ritter?«, hakte Tom nun nach.
»Den jungen Kerl, der die Schrate fertig gemacht hat. Angel heißt er.«
Da musste Tom laut auflachen. Eine ganze Weile konnte er sich gar nicht mehr beruhigen, nicht einmal die zornigen Blicke Vanessas ließen ihn wieder ernst werden.
»Er ist ein Mädchen«, japste er. »Dein Ritter ist eine Frau.«
»So ein Quatsch! Glaubst du, ich kann einen Mann nicht von einer Frau unterscheiden? Der Ritter war ein Mann, vielleicht sehr schlank, aber garantiert keine Frau!«
Energisch schüttelte Tom den Kopf. »Angel ist eindeutig eine Frau. Ich hab es selbst gesehen.«
»Ich weiß von Ellen, dass der Anführer von Kommando Bracket ein Mann ist. Es ist dieser eine Ritter.« Vanessa war jetzt richtig sauer. In einer kapitulierenden Geste hob Tom die Hände. Er wollte sich mit ihr nicht auch noch in Elderwelt streiten.
»Vielleicht hat sich Ellen versprochen. Soll ja vorkommen. Selbst Veyron passiert das manchmal.«
Ein promptes »Tut es nicht«, kam von dessen Seite als Antwort. »Können Sie mir den genauen Wortlaut von Miss Summers wiedergeben, Miss Sutton?«
»Sicher. Ich fragte Ellen nach ihrem Anführer, wer das sei und wie der so tickt. Sie sagte: ›Angel? Der ist großartig. Wir alle lieben ihn.‹ Genau das sagte sie.«
»Interessant«, meinte Veyron.
Bevor es gänzlich dunkel wurde, erreichten sie die kleine Insel mit der alten Linde. Ein plötzliches Gefühl der Erleichterung ergriff Tom. Dieser Ausflug nach Elderwelt dauerte zwar nur zwei Tage, die ganze Aufregung reichte jedoch für Wochen. Ihr Ruderer brachte sie an Land und führte sie zum Stamm der Linde. Er deutete auf den Spalt im Stamm und sprach in seiner Heimatsprache, in der Hoffnung, die drei würden irgendetwas davon verstehen. »Nach Hause«, sagte er schließlich mit schwerem Akzent.
Veyron bedankte sich mit einem tiefen Nicken. Er griff in seine Jackentasche, holte einen zerknitterten Notizblock und einen Kugelschreiber hervor. Blitzschnell kritzelte er etwas nieder, faltete den Zettel zusammen und reichte ihm den Ruderer.
»Für Angel«, sagte Veyron. Der Ruderer nickte verstehend. Behutsam steckte er den Zettel in seine Gürteltasche.
»Okay, das ist dann der Abschied. Auf nach London«, meinte Vanessa schließlich, packte Tom an der Hand und zerrte ihn unter den Astbogen, Veyron folgte ihnen auf der Stelle.
Nach einer kurzen Reise zurück zur Einsamen Insel und von dort erneut durch den Spalt des Lindenstammes marschiert, hatte Schottland sie wieder. Veyron stellte die Theorie auf, dass die sechs Astbögen der Linde bei Fort William magisch versiegelt waren und nur von der einsamen Insel aus zu ihren Zielen führten. Zwischen Elderwelt und der ihren gab es hingegen nur den Weg durch den gespaltenen Stamm.
Sie kehrten gerade noch rechtzeitig zurück, ehe das letzte Licht des Tages hinter den hohen Bergen verschwand. Ein wundervoller rötlicher Schimmer lag über dem ganzen Land. Ein rascher Blick nach Osten verriet, dass sie wirklich richtig gelandet waren. Nicht weit entfernt ragte der alte Bagger als rostender Titan in den Himmel. Alles schien friedlich und unberührt.
»Sieht nicht so aus, als hätte jemand nach uns gesucht«, meinte Tom erleichtert. »Und keine Spur von MacElhoe.«
Ohne noch länger zu warten, schlugen sie den Weg zu Toms Käfer ein. Hoffentlich war die alte Karre noch an Ort und Stelle. Veyron bezeichnete es als unwahrscheinlich, dass jemand nach ihnen suchte. Im Hotel hatte er die Nachricht hinterlassen, dass sie für ein paar Tage weg sein würden und Dr. MacElhoe wusste nichts von ihrem Vorhaben.
»Ob wir Kommando Bracket wiedersehen werden? Ich würde zu gerne wissen, wie sich Jordi und die anderen Angel anschließen konnten. Woher wussten sie überhaupt von der Existenz dieser Truppe?«, wechselte Vanessa plötzlich das Thema. Tom blieb stehen und starrte sie verblüfft an. Diese Frage war ihm bisher noch gar nicht in den Sinn gekommen.
»Gut, dass Sie es ansprechen, Miss Sutton. Aber keine Sorge, Tom wird bald nach Elderwelt zurückkehren und mehr über Kommando Bracket herausfinden.«
Entgeistert wandte sich Tom seinem Patenonkel zu. »Ich werde WAS?«
»Nun, ich habe Angel die Nachricht zukommen lassen, dass einer oder mehrere von uns nach Fleutian zurückkehren werden. Der beste Kandidat für diese Unternehmung bist du. Miss Angel scheint von dir besonders angetan. Die Blicke, die sie dir schenkte, waren eindeutig.«
»Veyron! Das geht nicht! In ein paar Tagen gehen die Kurse an der Uni los! Ich kann nicht einfach so mir nichts dir nichts nach Elderwelt verschwinden!«
»Brauchst du auch gar nicht. Dank der Linde haben wir nun einen freien Zugang in verschiedene Länder Elderwelts. Ich habe nicht vor, Kommando Bracket länger unbeobachtet agieren zu lassen. Unsere Ziele mögen sich vielleicht decken, aber ich bin mit deren Methoden nicht einverstanden. Außerdem gibt es da noch ein paar Ungereimtheiten, die aufgeklärt werden müssen.«
Tom musste erst einmal tief durchatmen. Es war typisch für Veyron, dass er, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, über das Leben der anderen hinwegbestimmte.
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