»Hey, ist okay«, meinte Angel sichtlich zufrieden. In einer Geste des Vertrauens fasste sie ihm an die Schulter. Anschließend wandte sie sich ihren Kriegern zu, stemmte gebieterisch die Fäuste in die Hüften. »Wir können jede Hilfe brauchen«, verkündete sie laut. »Unser nächster Schlag, Leute, wird sich gegen die obersten Diener des Dunklen Meisters richten. Die Zeit dafür ist reif: Wir greifen die Schatten an!«
Alles jubelte, tobte, klatschte. Nur allein Tom drehte sich förmlich der Magen um. Ein Angriff auf die Schatten? Angel musste den Verstand verloren haben.
Kommt nicht oft vor, dass ich ihn selbst abholen muss , dachte sich Inspector Gregson, als er vor 111 Wisteria Road parkte. In den letzten elf Jahren hatte sich fast immer jemand gefunden, der Veyron zu ihm brachte. Auch wenn er bisweilen immer noch nicht so recht aus dem sonderbaren Spezial-Detektiv schlau wurde, fühlte er doch eine gewisse Vertrautheit zu Veyron. Er war wie ein verrückter Cousin, den man kannte und schätzte, der einen jedoch stets aufs Neue zum Kopfschütteln brachte.
Gregson stellte den Wagen hinter einem babyblauen VW Käfer ab, der den halben Bürgersteig einnahm. Vorschriftsmäßig geparkt war das nicht, aber Regeln und Gesetze interessierten Veyron nur peripher. Anfangs hatte Gregson Veyron Swift für einen totalen Spinner gehalten, für einen Verrückten, den man in die Psychiatrie einweisen sollte. Bis … nun, bis er einer Schar Kobolde auf jenem Schrottplatz gegenüberstand, an dem seine Freundschaft zu Veyron begründet wurde.
Und zu Jane. Als sie sich damals kennenlernten, war sie eine junge Streifenpolizistin, noch keine fünf Jahre im Dienst. Gregson wusste noch gut, als Jane zum „Team“ stieß, wie er die kleine Verschwörung zwischen ihnen nannte. Zunächst war der Fall mit den Kobolden wohl in ihre Zuständigkeit gefallen. Der alte Pete Tweet, Eigentümer jenes Schrottplatzes, galt auf dem Revier von Potters Bar schon lange als Spinner. Janes Vorgesetzter wollte der blutjungen Polizistin wohl eine Lektion erteilen, als er sie darauf ansetzte. Jane hielt plündernde Jugendliche für die Übeltäter, die Nacht für Nacht Tweets Schrottplatz heimsuchten. Veyrons Kobold-Theorie lehnte sie verständlicher Weise als Wahnvorstellungen ab. Weil er bei Jane nicht weiterkam, verständigte Veyron daraufhin den CID und rief Gregson auf den Plan. Darüber war Jane sehr verärgert und hatte es sich nicht nehmen lassen, Veyron hinterher zu spionieren. In ihren Augen war dieser „Spinner“ tatverdächtig. Als es letztlich zum Kampf gegen die Kobolde kam, war es ironischerweise gerade Jane, die den Tag rettete. Anderenfalls hätten die kleinen Monster Veyron und Gregson sicherlich zerfleischt. Von diesem Moment an gehörte sie dazu. Bei jedem neuen Fall forderte Gregson Willkins als Unterstützung an, meistens auf Veyrons Betreiben.
»Vergessen Sie Willkins nicht, Inspector. Sie könnte uns erneut behilflich sein.«
Diesen Satz hörte er immer wieder. Warum Veyron sie jedes Mal unbedingt dabeihaben wollte, erschloss sich Gregson nie so richtig. Schließlich wurde es der Regelfall und niemand stellte mehr Fragen.
Gregson stapfte die Treppen zur Haustür hoch und drückte die Klingel. Einen Moment tat sich gar nichts, dann wurde die Tür aufgerissen. Veyron Swift stand vor ihm, das schwarze Haar ordentlich frisiert und seinen schlaksigen Körper in einen teuren Anzug gezwängt.
»Fliege oder Krawatte?« Veyron spielte mit den Fingern an seinem Kragen herum. Das Hemd schneeweiß, Sakko und Hose tiefschwarz, ebenso die Schuhe.
»Wir gehen auf eine Party, Veyron. Nicht auf eine Beerdigung.«
»Es ist in erster Linie Arbeit, Inspector. Für Belanglosigkeiten wie eine Party vergeude ich keine Zeit. Wir sollten die heutige Nacht nutzen, um so viele Informationen zu gewinnen wie möglich. Uns bietet sich nicht jeden Tag die Gelegenheit, ins Herz des Bösen eingeladen zu werden.«
Gregson seufzte. »Nehmen Sie die Fliege, das passt besser zu Ihnen.«
Noch während sich Veyorn die Fliege um den Kragen band, marschierten sie zu Gregsons Wagen. Im Westen versank bereits die Sonne hinter dem Horizont.
»Wo sind Sergeant Brown und Willkins?«, wollte Veyron schließlich wissen, als er Gregsons Dienstwagen leer vorfand.
»Die beiden fahren separat. Jane hat angerufen und mitgeteilt, dass ihr Dorian Vane eine Limousine geschickt hat. Die beiden holen Brown ab«, erklärte Gregson. Gleich darauf traf ihn der misstrauische Blick Veyrons.
»Die beiden ?«
»Vane und Jane, Veyron. Er holt sie ab, und die beiden lesen dabei noch Brown auf. Das wollte sich Vane nicht nehmen lassen, nehme ich an. Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Sie werden ja ganz rot im Gesicht.«
»Der Kragen sitzt etwas eng. Fahren wir.« Endlich stieg er ein.
Diesmal brauchte Gregson für den Weg zum Zaltic-Tower kein Navigationsgerät; er hatte Veyron dabei. Präziser als jeder Bordcomputer, auf den Meter genau, brachten ihn Swifts Anweisungen auf das Gelände des schwarzen Turms der Zaltianna Trading Company.
Problemlos wurden sie auf den Parkplatz gelassen und kamen von dort in die Lobby des Towers. Die wie üblich in Weiß und Schwarz uniformierten Empfangsdamen wiesen ihnen den Weg zum Aufzug. Die Party fand in den 135. und 136. Stockwerken statt. Oben fanden sie sich in einer weiteren Lobby wieder, doch wo sich die Party befand, war sehr schnell klar: Überall!
Männer und Frauen in teuren Roben und Anzügen schlenderten umher, unterhielten sich oder ließen Kellner Champagner servieren. Neben der Lobby und den etwas abgelegenen Toiletten bestand das ganze Stockwerk aus nur einem einzigen riesigen Saal, durch Treppen, Plattformen und Emporen in mehrere Ebenen unterteilt. Im Zentrum davon thronte eine große Bar, deren Kellner zu allen vier Seiten die Gäste bedienten. Der riesige Partysaal war von gedämpfter Musik erfüllt. Im oberen Stockwerk befand sich der Tanzsaal, wo teuer bezahlte DJs auflegten und eine Live-Band spielte.
»Bill!«, hörten sie Jane rufen. Gregson hob kurz die Augenbrauen. Sie trug ein Abendkleid, eine lange, champagnerfarbene Robe, die ihre optischen Vorzüge wie noch nie zur Geltung brachte.
»Oh, wow«, raunte er Veyron zu. »Was meinen Sie? Sie sieht umwerfend aus, oder?«
Veyron atmete tief ein. Im gedimmten Licht war nicht zu erkennen, ob sein sonst eher blasses Gesicht Farbe gewann. Gregson glaubte es zumindest.
»Ja, sehr hübsch«, meinte Veyron einen Moment später. »Wie immer.«
Jane kam zu ihnen, grinste von einem Ohr zum anderen. »Oben herrscht total die ausgelassene Stimmung. Man mag von Vampiren halten, was man will, aber feiern können sie.« Erst jetzt schien sie Veyron zu bemerken. »Swift.«
»Willkins.«
Gregson entging nicht, dass Veyron der Polizistin einen längeren Blick zuwarf. So neutral und geschäftsmäßig er auch dreinschauen mochte, Gregson kannte Veyron gut genug, um zu erkennen, dass ihm die neuen Feindseligkeiten mit Willkins zusetzten. Sogar ein Veyron Swift war eben nur ein Mensch.
»Wo ist Linda?«, versuchte er das Thema zu wechseln. Sergeant Brown war nirgendwo zu sehen. Schließlich nickte Jane in Richtung Bar.
»Du weißt ja, wie kontaktfreudig sie ist. Sofort war ein junger Gentleman zur Stelle, der ihr einen Drink anbot.«
Jane hakte sich bei Gregson unter den Arm und schlenderte mit ihm hinüber, Veyron folgte in respektvollem Abstand.
»Nicht so steif, Bill. Vampire spüren sowas«, raunte sie ihm grinsend zu.
»Du hast gut reden. Im Gegensatz zu dir habe ich noch keine Elderwelt-Erfahrungen. Ich kann ja noch nicht einmal sagen, wer von den ganzen Leuten überhaupt ein Vampir ist und wer nicht.«
Da musste Jane plötzlich auflachen. »Ich auch nicht.«
»Ich schon«, kam es halblaut von Veyron. Jane entschied sich, diesen Einwurf vollständig zu ignorieren. Sie setzte sich auf einen Hocker und raffte ihr langes Samtkleid ein wenig. Gregson erhaschte einen kurzen Blick auf ihre High Heels.
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