Die nächsten zehn Minuten hatte Tom für sich allein. Der serpentinengleiche Weg mündete in einen Trampelpfad, der zunehmend unwegsamer wurde, je höher Tom kam. Immerhin ließ der Nebel nach, und bald hatte er den blauen Himmel über sich. Er fand Veyron mit verschränkten Armen auf einem Felsvorsprung stehend. Die Sonne sandte ihr rotgoldenes Morgenlicht über den hügeligen Horizont Abulons, verwandelte die Wolken zu ihren Füßen in ein rosarot schimmerndes Wattemeer.
»Ein herrlicher Ausblick«, meinte Tom, als er neben seinen Patenonkel trat. Von tief unten drangen die Geräusche der Mine gedämpft herauf. Es dauerte einen Moment, ehe Veyron wie aus einer Trance erwachte und überrascht blinzelte.
»Verzeihung, ich war in Gedanken versunken.«
»Die Sache mit Ælfthryth geht Ihnen nicht aus dem Kopf, was? Können wir denn gar nichts für sie tun?«
»Unwahrscheinlich. Sollen wir etwa die beiden Mädchen mit nach London nehmen? Sie würden angesichts der unzähligen unerklärlichen Dinge wahrscheinlich den Verstand verlieren. Und was ist mit Ælfwine? Dürfen wir den Jungen zurücklassen, wo er sehr wahrscheinlich eines Tages, genau wie sein Vater, in der Mine ums Leben kommen wird?«
Tom wusste darauf keine Antwort. War doch klar, dass sie auch den Jungen retten mussten, nicht nur die beiden kleinen Mädchen.
»Und die Mutter«, ergänzte Veyron, als habe er Toms Gedanken gelesen. »Selbstverständlich müssten wir auch Ælfthryth retten. Und alle anderen, die in dieser Mine schuften. Wohin sollten wir sie bringen? Nach Talassair? Da dürften die Zwerge etwas dagegen haben. Ins Imperium Maresium vielleicht? Dort würde man sie allesamt als Sklaven verkaufen. Nein, Tom. Die einzig Lösung liegt außerhalb unserer Möglichkeiten. So bitter es für uns ist: Im Moment sind wir zur Tatenlosigkeit verdammt.«
Eine unsichtbare Last legte sich auf Toms Schultern und drohte ihn förmlich zu Boden drücken. So ungern er es zugeben wollte, aber Veyron schien Recht zu haben.
»Was wird Ælfthryth dann tun, wenn wir ihr nicht helfen können?«
»Zu Bruder Offa gehen und ihm alles erzählen, was sie letzte Nacht von uns erfahren konnte. Zum Glück ist es nicht besonders viel und ich bezweifle, dass auch Offa mit unserer Suche nach einem Grabmal etwas anfangen kann. Womöglich aber die Herolde des Königs. Diese ominösen Herrschaften wecken mein Interesse.«
»Glauben Sie, der König ist ein Gefolgsmann des Dunklen Meisters? Die Beschreibung der Hölle passt doch ganz gut zu den sieben Schatten, den obersten Dienern des Dunklen Meisters.«
Veyron nickte. »Zutreffend erkannt. Faszinierend. Stell dir nur einmal vor, Al Capone oder die Camorra hätten damals herausgefunden, dass sich irgendwo auf der Welt mit Schutzgelderpressung Religion machen ließe. Waren und Geld gegen Schutz vor der Hölle nach dem Tod. Nun ja, der Ablasshandel des sechzehnten Jahrhunderts ging ja schon in diese Richtung. Wie dem auch sei, der Dunkle Meister muss erkannt haben, dass hier auf Abulon eine frühchristliche Glaubenskultur existierte und hat diese mit seinen Schergen ad absurdum geführt.« Für eine Weile blickte er wieder schweigend über das Land. Schließlich seufzte er laut und deutete Veyron nach Osten. »Wir bekommen Besuch. Ich wäre wenig überrascht, wenn das die Herolde unseres Königs sind.«
Gegen die aufgehende Sonne hoben sich im Himmel vier schwarze Punkte ab, die schnell näherkamen. Vögel schienen es nicht zu sein, dafür waren sie zu rund. Es verging ein kurzer Moment, ehe Tom die Geschöpfe erkannte. Es waren gigantische Insekten! Jetzt konnte er das sonore Brummen ihrer riesigen Flügel hören. Auf den Rücken der Bestien saßen eindeutig fremde Reiter.
»Giganthornissen!«, schrie Tom. Mit diesen Bestien hatte er inzwischen beste Erfahrungen, nicht alle von der positiven Sorte.
»Nein, zu plump und zu klein, aber unglaublich wendig«, konterte Veyron.
Sie sahen zu, wie die Bestien tiefer flogen und in den Nebelschwaden zwischen den Berghängen verschwanden. Das Brummen der gigantischen Insekten hallte von allen Seiten wider, gefolgt von panischem Geschrei und Gekreische. Tom hielt nichts mehr. Vanessa war da allein dort unten — und Ælfthryth und ihre Kinder. Sie brauchten seine Hilfe. Er wirbelte herum und rannte den Weg zurück, griff mit der Hand an seinen Gürtel.
»Professor, ich brauche Ihre Hilfe!« Augenblicklich materialisierte das Daring-Schwert in seiner Faust, das blaue, verschnörkelte Saphirmuster auf der Klinge begann zu leuchten.
»Nicht so kopflos, Tom «, warnte ihn Veyron von hinten. Er folgte Tom, so schnell er konnte. Der Nebel wurde dichter, sodass sie kaum noch etwas sahen. »Die Gigant-Insekten vermögen sich noch auf andere Sinne zu verlassen als wir. Lassen wir sie landen und ihre Reiter absteigen. Das werden sie nämlich zweifelsfrei tun, um Informationen einzuholen.«
Widerwillig gab sich Tom einverstanden. Die Luft war vom Brummen der Monster erfüllt, laut wie ein Schwarm alter Kampfflugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg. Bäume und Boden erzitterten, wenn die Bestien über sie hinwegflogen, oft kaum mehr als eine Armlänge entfernt. Zögerlich gab der Nebel das Dorf Stückchen für Stückchen Preis. Wie ein Orkan fegten zwei der schwarzen Bestien über den Dorfplatz hinweg, rissen die Zelte der Händler nieder. Obst und Gemüse flog in hohem Bogen durch die Luft, Menschen wurden in den Dreck geschleudert. Kinder schrien und weinten, Frauen rannten mit geduckten Köpfen in Deckung. Bruder Offa kniete am Boden, die Hände hoch erhoben, flehte beim Einen um Erbarmen. Als er Veyron und Tom erblickte, verfinsterte sich sein Blick.
»Die Bestien aus dem fünften Höllenkreis! Das ist Eure Schuld! Nur Euretwegen sind sie über uns gekommen!«, brüllte Offa. Er sprang auf und suchte die Blicke der verängstigten Menschen. Mit zittrigen Fingern deutete er auf Tom und Veyron. »Die da sind Sendboten der Hölle! Sie bringen das Unheil über uns!«
Offas Hetzerei war im Moment jedoch die geringste Sorge. Den nahen Geräuschen der Monsterinsekten entnahm Tom, dass sie wie Haifische das Dorf umkreisten. Blitzschnell schoss wieder eines der Tiere aus dem Nebel heran, direkt auf Tom und Veyron zu. Im letzten Moment warfen sie sich auf den Boden.
»Es sind Fliegen«, japste Tom, als er die riesigen Komplexaugen und den gedrungenen Körper erkannte, der über ihn hinwegrauschte. Eine Fliege aus der Hölle, an die drei Meter groß, mit dicken, zu Dornen umgewandelten Haaren, die ihr in alle Richtungen weg standen. Je nach Lichteinfall schillerte ihr dunkler Panzer bläulich oder grünlich. Neben dem ganzen Lärm hinterließen diese Ungeheuer obendrein einen furchtbaren Gestank nach Aas und Kot. »Schmeißfliegen«, verbesserte sich Tom und kämpfte gegen einen Würgereflex an. Die Reiter der Bestien gaben sich martialisch, trugen schwarze Lederteile, eiserne Helme und Fliegerbrillen. Anders als bei den viel größeren Giganthornissen schienen die Bestienreiter auf den Rücken der Viecher zu liegen, zum Sitzen boten sie kaum Platz.
Tom kämpfte sich wieder auf die Beine, nahm das Daring-Schwert in beide Hände und wartete auf den nächsten Angriff. Der kam sofort.
Eine Höllenfliege brauste über ihn hinweg, sein Reiter warf zwei kleine, runde Gegenstände nach Tom, die ihm vor die Füße kullerten. Es roch nach Schwarzpulver.
»Granaten!«, schrie Veyron, packte Tom bei der Schulter und riss ihn fort; keine Sekunde zu spät. Zwei Explosionen flammten auf, eine Druckwelle packte ihn und schleuderte ihn hart zu Boden. Glühend heiße Splitter bohrten sich ihm ins Gesicht. Sofort tastete er sich ab, aber mehr als ein paar Kratzer schien er nicht abbekommen zu haben.
Veyron erging es nicht anders. »Das ist was Neues«, japste er. »Der Dunkle Meister hat aufgerüstet.«
Aber das war noch nicht alles. Mit jeder Minute lichtete sich der Nebel weiter, gab den Blick auf die Mine frei. Wie aus dem Nichts stampften mit schwarzen Rüstungen gepanzerte Gestalten auf das Dorf zu. Johlend trieben sie die Menschen zusammen, ließen Peitschen knallen und bedrohten jeden mit schartigen Säbeln, schwangen eiserne Keulen. Es waren Schrate! Menschähnliche Kreaturen, oft mit krummen Rücken und abscheulichen, schiefen Gesichtern, übersät mit Ekzemen, die Haut grau wie Asche, die Ohren spitz und das Haar zerzaust und fettig. Sie brüllten und tobten, stießen Männer und Frauen rücksichtslos in den Dreck, traten oder peitschten nach ihnen, warfen Tische und Stühle um. Es mussten an die zwanzig bis dreißig Mann sein, die aus allen Richtungen auftauchten. Ein paar der Kerle steckten mit Fackeln das nächstbeste Haus in Brand.
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