Darauf wusste Ælfthryth nichts mehr zu erwidern. Veyron verschwand endlich im Inneren des kleinen Hauses. Als nächstes folgte Vanessa, von der sich ihre Gastgeberin demonstrativ abwandte.
»Keine Unzucht in meinem Haus!«, giftete sie, als Tom kurz davorstand, einzutreten.
»Wir tun schon nichts«.
Ihre Blicke musterten ihn misstrauisch, dann ließ sie ihn passieren.
Das Innere war genauso düster und eng, wie Tom befürchtet hatte. Mehr ein in die Erde gegrabener Giebel als ein tatsächliches Haus. Sie mussten die Köpfe einziehen. Es gab kein einziges Fenster, in der Mitte des einzigen Raumes nur ein Loch in der Decke, durch das Tom die Sterne sehen konnte. Direkt darunter lag die Feuerstelle, um die vier Schlafplätze hergerichtet waren, vier primitive Holzkästen, mit Stroh und ein paar Decken ausgelegt. Ælfthryth wies ihren drei Besuchern das andere Ende des Raumes zu, wo eine Spindel und ein Webstuhl standen. Veyron bedankte sich abermals für die Großzügigkeit ihrer Gastgeberin, was diese mit demonstrativem Schweigen zur Kenntnis nahm. Freundlichkeit sah anders aus. Danach wandte sie sich ihrer Familie zu. Ihre drei Kinder hatten sich bisher in der finstersten Ecke des Raumes hinter ein paar rechteckigen Bettgestellen versteckt. Langsam kamen sie jetzt heraus und folgten ihr zur Feuerstelle. Ælfthryth war Mutter zweier Mädchen zwischen vier und acht Jahren und eines Jungen, der an die zwölf sein musste. Die kleine Familie fand sich zum Abenbrot zusammen und setzte sich an die Feuerstelle, die drei Gäste blieben ausgeschlossen. Während ihnen Ælfthryth den Rücken zukehrte, suchten die Kinder immer wieder neugierig den Blick zu den Fremden. Ælfthryth raunte ein Gebet auf ihrer Sprache, dann zerbrach sie einen kleinen Laib Brot in vier Teile, die sie schweigend aßen.
Die ganze Zeit sprachen Tom, Veyron und Vanessa nichts miteinander, sie wagten nicht einmal zu flüstern.
Schließlich hielt Vanessa die Stille nicht mehr aus. »Was tun wir jetzt? Hocken wir einfach nur so da?«
»Das Klügste wird sein, wir wechseln uns mit der Nachtwache ab. Ich glaube nicht, dass uns Ælfthryth etwas antun wird. Bruder Offa möchte ich dagegen nicht so weit vertrauen. Sehr wahrscheinlich wird bis morgen gar nichts passieren, aber lasst uns kein Risiko eingehen«, meinte Veyron. Tom gab ihm in allen Punkten recht.
»Wir wissen immer noch nicht, wo wir sind«, meinte er nach einer Weile.
»Auf Abulon, Herr. Es ist eine Insel.«
Erstaunt blickten sie auf und sahen den Jungen hinter ihnen stehen. Etwas verlegen schien er, vielleicht sogar ängstlich, aber die Neugier leuchtete aus seinen Augen. Veyron schenkte ihm ein einladendes, gütiges Lächeln.
»Hochinteressant. Darf ich fragen, wer du bist, mein Junge?«
»Ælfwine. Werdet Ihr mir nun auch Euren Namen verraten?«
»Mich nennt man Veyron. Meine Begleiter heißen Vanessa und Tom.«
»Wo kommt Ihr her? Bruder Offa meinte, Ihr wäret von Talassair, der Magischen Insel. Wie es ist dort?«
»Ælfwine!«, mischte sich nun die Stimme der Mutter ein. Mit zornigem Blick trat sie auf ihren Sohn zu. »Du sollst nicht mit den Fremden reden! Wir wollen nichts von ihnen wissen!«
»Es ist ein schöner Ort, Talassair«, sagte Veyron trotzdem. »Voller Wunder und Magie. Wenn du nach …« Er zögerte, als suchte er eine bestimmte Richtung. »Wo liegt Abulon genau?«
»Im Osten von Caralantion. Unsere Vorfahren kamen jedoch aus dem Süden über das Meer, genau wie die Vorfahren von allen Leuten hier«, platzte es aus Ælfwine heraus. Seine Mutter nahm ihn an den Schultern und drehte ihn fort. Auf der Sprache der Einheimischen tadelte sie ihn leise. Sie schickte ihren Sohn zurück zur Feuerstelle, wo inzwischen die Mädchen aufgestanden waren und sich anschickten, ihrem Bruder zu den Fremden zu folgen. Es kam zu einer kurzen Diskussion innerhalb der kleinen Familie. Ælfthryth wusste die Autorität auf ihrer Seite. Ein strenger Blick in die drei jungen Gesichter genügte, und sie setzten sich alle wieder. Ein paar Minuten vergingen, ehe Ælfthryth plötzlich aufstand und sich Veyron gegenüber hinsetzte.
»Was sucht Ihr hier auf Abulon?«
»Wir sind Kundschafter, Mylady«, antwortete Veyron.
»Was wollt Ihr auskundschaften? Auf Abulon gibt es nichts. Wir sind nur arme Leute. Reichtümer findet Ihr in Plowonida, der Hauptstadt von Cantia, sechzig Meilen nordwärts.«
»Wir suchen keine Schätze«, sagte nun Vanessa. »Wir suchen ein Grabmal.«
Innerlich fluchte Tom. Wenn er Veyrons Gesprächsstrategie richtig einschätzte, wollte er genau diese Information nicht preisgeben. Offa hatte Ælfthryth, die wohl als einzige Frau in der Gegend Talassenglisch beherrschte, bestimmt damit beauftragt, ihre Gäste auszuhorchen.
»Die einzigen großen Gräber sind die der alten Könige Caralantions, die früher hier begraben wurden«, meinte sie und zuckte mit den Schultern. »Aber die wurden schon vor Jahrhunderten von Grabräubern geplündert. Was könntet Ihr dort nur wollen?«
»Ihr scheint sehr gebildet, Mylady. Darf ich fragen, woher Ihr kommt?«
»Ich bin Näherin.« In Ælfthryths Antwort schwang ein gewisser Stolz mit, der jedoch sofort in Resignation umschlug. »Bis vor vier Jahren lebte ich in Plowonida und arbeitete für die dortigen Kaufleute und sogar für die Damen des Fürstenhofs. So konnte ich viel lernen, Meister Veyron. Lesen, Schreiben und Rechnen und auch die Sprache der Seehändler. Es heißt, dass alle Menschen auf Talassair sie sprechen. Ich hoffte, ich könnte meine Kinder in Plowe, so nennen wir unsere Stadt, zur Schule schicken. Aber das kostet Geld und mein Gatte fand in der Stadt keine Anstellung mehr. Alsbald konnten wir die Miete nicht mehr bezahlen und mussten Plowe verlassen. Auf dem Lande werden jedoch immer starke Männer für die Arbeit in den Minen gesucht, und so zogen wir hierher.«
Tom empfand plötzlich Mitgefühl. Das sie womöglich ein hartes Los ertragen musste, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Ob Veyron genauso dachte? Sein Patenonkel blieb wie immer geschäftsmäßig sachlich.
»Was könnt Ihr uns sonst noch über diese Insel verraten? Wir haben den zur Hälfte umgeschlagenen Baum gesehen, ein wahres Monstrum.«
Aelthryth nickte. »Das ist der alte Hexenbaum. Den ließen die Kleriker vor Jahrzehnten niederhauen, aber dann ist etwas geschehen, noch ehe sie fertig waren. Man sagt, gerade als sie den Hauptstamm fällen wollten, kamen Dämonen aus dem Baum hervor und töteten jeden Mann im Umkreis von einer Meile. Seitdem wagt es niemand mehr, dorthin zu gehen. Der König hat verboten, sich dem Baum auch nur auf einhundert Fuß zu nähern. Man sagt, der Baum beherberge das Tor zur Hölle.«
»Wer sind diese Kleriker? Ich nehme an, Bruder Offa ist einer von ihnen?«
»Ja, sie legen beim Einen Fürbitten für uns Sünder ein, in der Hoffnung, dass uns so der Platz im Paradies sicher ist.«
Veyron hob beide Augenbrauen. »Der Eine?«
Ælfthryth wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte. »Talassair scheint ein seltsamer Ort zu sein, wenn man dort den Einen nicht kennt, Meister Veyron.«
»So klärt uns auf, Mylady. Wer ist der Eine?«
»Der Eine ist der, welcher uns vor den Sieben Kreisen der Hölle schützt: Dem Eisenkreis, wo die Menschen nach dem Tod hinkommen und eingesperrt werden, dem Feuerkreis, wo man uns als Sklaven brandmarkt. Tiefer noch liegt der Todeskreis, wo man die Schwachen und Verwundeten erschlägt. Auf ihn folgt der Pestkreis, wo man die Menschen mit Krankheiten quält. Wer dann noch übrig ist, gelangt in den Bestienkreis, wo die Menschen von wilden Tieren zerfleischt werden. Ganz tief unten gibt es den Seelenkreis, wo die Seele gefoltert wird. Die schlimmsten Sünder landen im Schattenkreis, um für immer in der Finsternis zu verschwinden.«
»Faszinierend. Ich hörte, die Hölle habe tatsächlich neun Kreise. So berichtet es der Gelehrte Dante.«
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