»Keine abgehackten Äste«, stellte er schnell fest.
»Es ist eine Sackgasse«, glaubte Tom. Resigniert setzte er sich auf den Boden. Seit über zwei Stunden rannten sie auf dieser Insel herum.
»Was überzeugt dich davon?« Sein Patenonkel schaute ihn an, als könne Tom Eins und Eins nicht zusammenzählen.
Tom schnaubte und deutete hinaus auf die grüne Landschaft.
»Spricht diese Insel nicht für sich?«
»Doch, das tut sie. Wie mir scheint, machst du deine Augen nicht weit genug auf. Was siehst du?«
»Eine kreisrunde Insel, genau sieben Kilometer im Durchmesser, von den Illauri irgendwo mitten im Ozean Elderwelts geparkt, schulterhohes Gras, eine einsame Linde mitten im Zentrum der Insel und drei Narren, die sich weiß was davon erhoffen«, gab Tom säuerlich zurück.
»Ich sehe nur einen Narren«, erwiderte Veyron bar jeglicher Emotion. »Einen Narren, der zum Beispiel nicht die Schneisen sieht, die wir auf unseren Märschen zu den Küsten durch das Gras geschlagen haben.«
»Na gut, die halt dann auch noch«, brummte Tom.
»Und die Schneisen, welche die Besucher vor uns geschlagen haben. Hier zum Beispiel.« Veyron deutete nach Westen, zu einem der sechs Bogen, welche die Hauptäste bildeten. »Hunderte von Grashalmen sind umgeknickt und gebrochen. Spuren von zwei Besuchern. Der Großteil des Grases konnte sich inzwischen wieder aufrichten, aber die abgeknickten Halme blieben.«
»Stimmt«, sagte Vanessa. »Jetzt sehe ich es auch.«
»Sie sahen es die ganze Zeit, nur wahrgenommen haben Sie es nicht. Ebenso wenig wie Tom«, sagte Veyron. »Was fällt Ihnen sonst noch auf?«
Vanessa musste sich konzentrieren. Von neuem Interesse geweckt, stand Tom auf und trat an ihre Seite. Gemeinsam untersuchten sie die Spuren im Gras, folgten ihnen ein paar Meter, bis sie direkt vor dem riesigen Astbogen standen.
»Hier hören die Spuren auf«, bemerkte Tom. Das Gras jenseits des Astes war vollkommen unberührt.
»Wohin können die beiden Besucher verschwunden sein? Sind Sie den gleichen Weg wieder zurückgegangen? Dann müsste das Gras an der Stelle jedoch besonders zertrampelt sein, was nicht der Fall ist. Sind sie also fortgeflogen?«, fragte Veyron spitz. Die Antwort schien offensichtlich — und doch regelrecht unglaublich.
»Ein zweites Tor? Meinen Sie, dieser Ast ist ein zweites Tor?«
»Testen wir es«, sagte Veyron, packte Vanessa und Tom an den Schultern. Sie schritten unter dem Bogen durch.
Tom musste den Arm heben, um die grelle Sonne abzuschirmen, die ihm plötzlich in die Augen brannte. Das herbstliche Wetter Schottlands und das windige Klima der einsamen Insel waren durch eine trockene Hitze ausgetauscht, die saftigen Wiesen wichen einem ausgedörrten, staubigen Boden. Grauer Sand bedeckte Täler und Hügel, welche sich rund um die Linde ausbreiteten. In der Ferne ließ sich ein hohes, schneebedecktes Gebirge ausmachen. Einer der Gipfel entpuppte sich als qualmender Vulkan. Die Linde stand inmitten eines lichten Steppenwaldes. Weit und breit schien sie auch hier der einzige Vertreter ihrer Art zu sein. Alle anderen Bäume bestanden aus hochgewachsenen Kiefern, buschigen Zypressen und stacheligen Araukarien, alles Bäume, die sehr viel besser an ein heißes Klima angepasst waren. Ein paar wenige Vögel zwitscherten in den Baumkronen. Sehen konnte man sie jedoch nicht.
»Okay, Ihre Theorie stimmt schon mal«, raunte Vanessa. »Aber wo sind wir jetzt?«
»Ich fürchte, das vermag ich Ihnen nicht zu sagen, Miss Sutton. Das hier ist ein Teil Elderwelts, von dem ich bisher nichts wusste.«
Vanessa warf Veyron einen schadenfrohen Blick zu. »Echt? Sie wissen einmal irgendetwas nicht ? Gibt’s das?«
Er musste etwas tun, das spürte Tom. Ansonsten gingen die Boshaftigkeiten zwischen seiner Freundin und seinem Patenonkel von Neuem los.
»Ist doch egal, wo wir sind. Wir müssen die beiden Killer finden, Owain und das dürre Riesenweib«, brummte er.
Sofort kehrte Veyrons Aufmerksamkeit zur Umgebung zurück. Er sank in die Hocke und untersuchte den Boden. Blitzschnell schien er eine Spur zu finden.
»Hier lang.« Er deutete nach Norden. Sie machten ein paar Schritte von der Linde fort, schauten sich im Wald um. Abgesehen von den verschiedenen Koniferen-Arten gehörten noch vereinzelte buschige Farne und Polstergräser zu den wenigen anderen Pflanzenarten. Hier und da fanden sich auch Stechginster und ein paar Kakteensträucher.
Je weiter sie in den Wald vordrangen, desto weniger sangen die Vögel. Die Anwesenheit menschlicher Besucher schien sie zu alarmieren. Tom kam die plötzliche Stille ausgesprochen gespenstisch vor. Er fühlte sich beobachtet; nicht nur von den Vögeln in den Kronen. Nervös sah er sich um, versuchte irgendetwas hinter den Bäumen oder den Sträuchern zu entdecken. Waren da Tiere? Oder gar Menschen, die Einheimischen dieses Landes vielleicht? Sehen konnte er nichts. Ihm wurde immer mulmiger.
»Hier stimmt etwas nicht«, raunte er Vanessa zu. Ohne hinzusehen schnappte sie seine Rechte und drückte sie fest.
»Wir sind nicht allein«, flüsterte sie.
»Zutreffend«, meinte Veyron ein paar Schritte voraus. Er untersuchte die Fußspuren. Tom konnte in dem Staub rein gar nichts sehen, aber er war auch kein geschulter Fährtenleser wie Veyron.
»Unsere beiden Todesengel haben an dieser Stelle kehrt gemacht. Interessant. Hier sind noch andere Spuren«, ließ er Tom und Vanessa wissen, schürzte kurz die Lippen. »Jedoch keine menschlichen.«
»Vielleicht waren es Schrate«, entgegnete Vanessa leise.
Veyron schüttelte den Kopf. »Definitiv nicht.« Er deutete auf einen Fleck, der sich einige Meter vor ihnen befand. Tom schnappte nach Luft. Es waren deutliche Abdrücke im Boden, jeder etwa einen Meter groß; von riesigen Füßen mit drei langen Zehen.
Vanessa schnappte nach Luft. »Was für ein Ungeheuer war das?«
»Schwer zu sagen, Miss Sutton. Wer immer die fremden Wesen waren, sie kamen kurz nach unseren beiden Flüchtigen hierher und folgten deren Spuren. Vielleicht wurden sie vom Geruch angelockt und haben Beute gewittert«, erklärte Veyron.
Als wollte ihm irgendeine höhere Macht Recht geben, brüllten auf einmal mehrere Tiere. Die Geräusche kamen von irgendwo hinter den nahen Hügeln, laut und dröhnend, wie die Signalhörner eines Ozeandampfers. Was immer es war, es näherte sich dem Wald. Vanessa machte einen Schritt rückwärts.
»W … wa … was sind das für Geschöpfe?«
»Keine Elefanten, soviel dürfte feststehen«, antwortete Veyron ihr, noch immer die Ruhe in Person. Wie Tom ihn einschätzte, wollte er den fremden Wesen sogar entgegengehen. Zum Glück war Vanessa jedoch gänzlich anderer Meinung.
»Sagten Sie nicht, dass die beiden Attentäter zurück zur Linde gerannt sind? Sollten wir das nicht auch tun?«
Als könnte die alte Linde irgendeinen Schutz bieten, wandte sie sich dem alten Baum zu. Heftig zerrte sie an Toms Hand, ehe er sich endlich in ihre Richtung bewegte. Ununterbrochen hielt sie Toms Hand, drückte so fest zu, dass sie ihm beinahe die Finger brach. Schnurstracks hielten sie auf den Astbogen zu.
»Okay, dieser Baum führt zu mehreren Orten Elderwelts. Das ist schön. Und jetzt lasst uns abhauen. Auf der anderen Insel war es eigentlich gar nicht so übel«, meinte sie voller Hysterie. Ihre Worte überschlugen sich beinahe. Hinter ihnen wurde das dumpfe Dröhnen der fremden Tiere lauter. Sie kamen genau in ihre Richtung, wahrscheinlich vom Geruch der drei Besucher angelockt.
»Halt, wartet!«, rief Veyron noch, doch da waren sie schon unter dem Bogen durch.
Ein weiteres Mal breitete sich zu ihren Füßen eine neue Landschaft aus. Auf den ersten Blick schien sie dem schottischen Boden nicht unähnlich: Saftiges Gras, das sich über runde Hügel legte und die Flanken naher Berge hinaufwuchs, unterbrochen von dunklen Wäldern. Ein Zeichen von Zivilisation gab es auch in diesem Land nicht. Keine Häuser, keine Straßen, keine Zäune, keinerlei Vieh; nicht einziges Schaf im Umkreis.
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