Am frühen Morgen weckte Veyron Vanessa und Tom. Es gab ein ausgiebiges Frühstück, danach fuhren sie mit Toms Käfer raus aus der Stadt. Bald hatten sie nur noch die grünen Weiden und die Berge der Highlands vor sich. Aus dem erhofften Ausflug in die Natur Schottlands wurde nichts. Gerade mal neun Kilometer außerhalb der Stadt endete ihre Fahrt. Am Rand einer alten Kiesgrube ließ Veyron den Wagen anhalten.
»Wir sind da«, verkündete er emotionslos und deutete nach vorne.
Hinter der Kiesgrube breitete sich eine große Weide aus. Gras, soweit das Auge reichte. Hier und da unterteilte eine kleine Hecke die Ebene in mehrere Felder. Und mittendrin stand der seltsamste Baum, den Tom je gesehen hatte. Mit seiner gewaltigen Krone musste er an die dreißig Meter hoch sein, getragen von einem mehrere Meter dicken Stamm, der von den Wurzeln bis zu einer Höhe von vier Metern in zwei Teile gespalten war und erst darüber zusammenwuchs. Die untersten Äste waren mannsdick und so alt und schwer, dass sechs davon von ihrem eigenen Gewicht bogenförmig zu Boden gedrückt wurden, ehe die Äste wie ein umgekipptes S wieder in den Himmel sprossen. Es sah aus, als würde der dicke Stamm von natürlich gewachsenen Arkaden gestützt.
Alle drei stiegen aus, überquerten die Straße und marschierten ins hohe Gras, der gewaltige Baum direkt vor ihnen.
»Wahnsinn, wie groß der ist.« Vanessas Ehrfurcht spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider.
»Interessant finde ich vor allem den plattgetrampelten Boden, der direkt zu dieser Linde führt.« Veyron deutete auf die gut sichtbaren Spuren im Gras. »Mehrere Personen, unterwegs mit Motorrädern.«
»Vielleicht Motocross-Fahrer?« Tom blickte zurück zur Kiesgrube. Das verlassene Gelände würde sich perfekt dafür anbieten.
Veyron schüttelte jedoch den Kopf. »Nein, die Spuren kommen von der Straße und führen direkt zu der Linde. Es gehen keine Spuren zurück. Es besteht die Möglichkeit …«
Weiter kam er nicht. Ein lauter Knall unterbrach ihn. Instinktiv ließ sich Tom ins Gras fallen. Er kannte dieses Geräusch nur zu gut.
»Da ballert jemand in der Gegend rum!«
Auch Vanessa warf sich zu Boden, dann Veyron. Ein zweiter Schuss krachte. Vor ihnen stob die Erde auf.
»Man schießt auf uns , um es präziser auszudrücken.« Veyrons Feststellung klang derart gelassen, dass es Tom schon fast absurd schien. Veyron ging auf die Knie und warf einen raschen Blick über das hohe Gras, ehe er wieder in Deckung ging. Er deutete nach Osten. »Von dort drüben. Da gibt es eine Hecke, etwa fünfzig Meter entfernt.«
Ein dritter Schuss zerriss die Stille, die sich über das Land gelegt hatte.
»Ein Attentäter von der Company?« Vanessas Muskeln waren gespannt wie Drahtseile. Wie eine Raubkatze in Lauerstellung ruhte sie auf Händen und Füßen, bereit hochzuspringen und anzugreifen. Auch Tom war bereit für einen Kampf. Aber mit was sollten sie angreifen.
»Unwahrscheinlich, Miss Sutton. Die Company würde einen Scharfschützen schicken, mit Präzisionsgewehr samt Schalldämpfer. Ein Killer von der ZTC hätte nicht dreimal danebengeschossen, da dürfen Sie sicher sein.« Vorsichtig stand Veyron auf, begann mit den Armen zu winken.
»Nicht schießen!«, rief er laut, nur um als Antwort einen vierten Schuss krachen zu hören. Veyron warf sich wieder in Deckung.
»Höllenhunde, verdammte! Elendes Pack! Verzieht euch, haut ab! Lasst meinen Baum in Ruhe!«
Eine ganze Reihe weiterer Flüche ausstoßend, von denen Tom jedoch keinen einzigen verstand, stolperte ein Mann hinter der Hecke hervor, ein wahrer Riese, um die sechzig, durchtrainiert, mit breiten Schultern und großen Händen, die von harter Arbeit zeugten. Sie konnten eine Zehn-Kilo-Spitzhacke sicher ebenso gut schwingen wie die doppelläufige Flinte, die sie jetzt hielten.
»Haut ab, ihr verdammten Invasoren! Ich will euch hier nicht! Lasst den Baum in Ruhe! Bas mallaichte ! Wollt ihr wohl verschwinden!« Der zornige Riese stampfte auf sie zu, kämpfte darum, den Lauf zu öffnen und nachzuladen. Vor lauter Wut bekam er es zum Glück nicht richtig hin. Für Veyron ein guter Moment, ihren Widersacher rasch in Augenschein zu nehmen – ehe er von einer fünften Salve wieder in Deckung gezwungen wurde.
»Einsachtundachtzig groß, etwa hundertzwanzig Kilo, schwerer Schritt. Hörgerät im linken Ohr«, fasste Veyron seine Beobachtungen zusammen. »Es übersteuert, wenn der Schuss knallt, hörbar an einem schrillen Pfeifen. Danach befindet er sich für etwa zehn Sekunden in einem Zustand von Verwirrung, wobei er sich instinktiv nach rechts dreht, fort von der Lärmquelle. Das ist unsere Chance. Wir machen es so: Ihr springt auf, winkt ihm, und dann geht ihr sofort wieder in Deckung. Das wird ihn von mir ablenken.«
Vanessa nickte ernst, während Tom noch versuchte sich darüber klar zu werden, was sein Patenonkel jetzt wieder Verrücktes ausheckte. Veyron reichte dagegen das Einverständnis von Toms Freundin. Auf allen Vieren huschte er durch das hohe Gras davon.
»Habe ich das richtig verstanden? Wir sollen Zielscheiben für diesen Irren spielen?«, fragte Tom. Vanessa verzichtete auf eine Antwort. Sie wartete einen kurzen Moment, dann sprang sie auf, riss die Arme in die Höhe und plärrte aus Leibeskräften. »Hey, Opa! Hierher!«
Blitzartig fuhr der Flintenmeister zu ihr herum, die Waffe im Anschlag. Tom sah genug. Er sprang auf, packte Vanessa an den Schultern und riss sie zurück auf den Erdboden. Keinen Moment zu spät; schon krachte ein Schuss und etwas pfiff deutlich hörbar über sie hinweg.
Aus den Augenwinkeln konnte Tom sehen, wie Veyron losstürmte. Der Schütze sah ihn kommen, fluchte derb und versuchte nachzuladen. Doch wieder bekam er die Patronen nicht in den Doppellauf geschoben. Veyrons Kalkulationen erwiesen sich als zutreffend. Er erreichte den Hünen, ehe dieser die Waffe wieder heben konnte. Veyron packte den Lauf, drückte ihn zur Seite. Doch anstatt den Mann einfach niederzuschlagen, hob Veyron nun abwehrend die Hände.
»Sir, Schluss damit! Kommen Sie wieder zur Vernunft!«
Der Flintenriese kämpfte mit seiner Verwirrung, seine Augenbrauen hoben und senkten sich unkontrolliert.
»Verdammte Touristen!«, schimpfte er von Neuem. »Treiben hier ihr Unwesen, machen Lagerfeuer in der Kiesgrube und spielen mit ihren Motorrädern auf der Wiese! Ständig klettern sie auf meinem Baum herum. Verdammt, es ist der Einzige seiner Art. Ich habe diese Rotzlöffel gewarnt, dass ich sie erschieße, wenn sie nicht verschwinden!«
Veyron nickte eifrig, als habe er volles Verständnis.
»Ja, da verstehe ich gut. Eine ordentliche Tracht Prügel würde so manchem Bengel nicht schaden. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen? Ich bin Veyron Swift. Vielleicht haben Sie von meinem Großonkel gehört? Gordon Swift aus Inverness.«
Neugierig geworden, stellte der Hüne die Flinte am Boden ab. Er wechselte mit Veyron ein paar Sätze, die Tom nicht verstehen konnte.
Vanessa wirkte ehrlich beeindruckt. »Ich wusste gar nicht, dass dein Onkel Gälisch spricht.« Tom kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Bis dato hatte er davon auch nichts gewusst. Aber wenn Veyrons Vorfahren schon aus Schottland kamen, lag das dann nicht irgendwie auf der Hand?
»J-jaa. Schon irgendwie irre, oder? Ich glaube, das macht dann Nummer achtzehn auf der Liste flüssig gesprochener Sprachen.«
Nach einer Weile deutete Veyron den beiden näher zu kommen. Der bewaffnete Hüne wirkte jetzt sehr viel gastfreundlicher.
»Willkommen in Fort William! MacElhoe ist mein Name«, rief er ihnen mit ausgebreiteten Armen zu. »Was haltet ihr von meinem Baum? Er ist der einzige seiner Art auf der ganzen Welt.« Der Stolz, der den Mann beim Anblick der Linde überkam, war unübersehbar.
»Ein Prachtexemplar, Doktor MacElhoe. Ein lebendes Kunstwerk, würde ich glatt sagen«, entgegnete Veyron mit übertriebener Begeisterung. »Wie alt mag dieser Baum sein? Ich sehe, dass seine Äste nicht gestützt wurden, wie das bei der Tanzlinde im fränkischen Effeltrich der Fall ist, oder bei so manch anderer Tausendjähriger Linde.«
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