»… sind selbstverständlich gegen jede Form von Gewalt. Wir von MEGA verurteilen diesen brutalen Akt. Aber wir sind auch gegen die Vorverurteilung der tapferen, rechtschaffenden Menschen, die jeden Tag unermüdlich für die Gerechtigkeit einstehen. Die Proteste gegen die ZTC sind friedlich. Diese beiden Attentäter haben nichts mit unserer Bewegung zu tun. Wir müssen verstehen, warum junge Leute zu solch extremen Maßnahmen greifen«, erklärte er. Die Reporterin, im Laufband als Joy Jennings vorgestellt, wollte es genauer wissen.
»Heißt das, Sie haben Verständnis für diesen Mordanschlag?«
»Es gab keine Toten, das hat die Polizei bestätigt. Es wurden lediglich zwei Feuer gelegt und Rauchbomben geworfen. Nennen wir das Ganze also einen Anschlag. Von den Absichten der beiden Attentäter wissen wir nichts«, sagte Doe.
Tom machte große Augen. Aha , der Tod von zwei Vampiren wird also unterschlagen . Aber es wunderte ihn nicht, dass die ZTC-Anführer das Ableben ihrer Bodyguards leugneten. Die Wahrheit hätte zur Enthüllung ihrer eigenen Natur geführt.
»Also haben Sie eindeutig Verständnis?«, hakte Miss Jennings nach.
»Es darf nicht sein, dass junge Menschen, die sich bisher nichts zuschulden kommen ließen, sich gezwungen sehen, zur Selbstjustiz zu greifen. Gerechtigkeit zu üben fällt unter die Zuständigkeit des Staates. Deshalb fordern wir schon lange ein Ende der Wattebausch-Politik gegenüber Verbrecherkonzernen wie der ZTC. Der Staat muss mit aller Härte gegen dieses verbrecherische Management durchgreifen und ein Zeichen setzen, um diesen Auswüchsen mit aller Deutlichkeit ein Ende zu setzen. Ein für alle Mal.«
»Auch mit der Todesstrafe? Würden Sie so etwas begrüßen?«
Doe brauchte nicht lange zu überlegen. »Als letztes Mittel, warum nicht?«
»Sir«, meinte Miss Jennings sichtlich geschockt — Tom konnte ihr gut nachfühlen; ihm ging es genauso. »Die Todesstrafe wurde in ganz Europa verboten.«
Als Antwort darauf zuckte Doe lediglich mit den Achseln. »Irrtümer muss man korrigieren können, wenn die Zeit es erfordert. Gesetze lassen sich rückgängig machen, wenn es notwendig ist. Was wäre, wenn das Volk es beispielsweise fordert? Könnten wir uns da noch verweigern? Das Volk, Miss Jennings, ist der Boss im Staate, nicht wir Politiker. Wir von MEGA sind dagegen, dass der Wille der stillen Mehrheit in diesem Land immer wieder ignoriert wird.«
Tom stand kurz davor, den Fernseher abzuschalten. Diesen widerwärtigen Kerl konnte er sich keine Minute länger anhören. Zum Glück folgten auf dieses Interview die verwackelten Kameraaufnahmen aus dem Atelier , die den Überfall sehr gut zeigten und auch wie Tom und Veyron in den von Rauch und Qualm gefüllten Speisesaal stürmten. Dann schwenkte das Bild fort und man hörte Schüsse. Tom wusste mehr als das Publikum vor dem Fernseher.
»Das war Wimille. Er hat die beiden Killer mit seinem Revolver vertrieben«, ließ er Vanessa wissen.
»Ihr hättet ihnen helfen sollen, die ZTC auszulöschen. Das war eine einzigartige Chance. Warum habt ihr sie nicht ergriffen? Ich hätte es getan, wenn ich dort gewesen wäre«, meinte sie darauf.
Tom seufzte. »Vanessa, das ist nicht unsere Art. Wir tun so etwas nicht, Veyron tut so etwas nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil wir die Guten sind!« Mehr wollte Tom dazu nicht einfallen. Allmählich gingen ihm die Argumente aus. Genervt von dieser Diskussion hob er in kapitulierender Geste die Hände.
»Lassen wir das einfach, okay? Ich will nicht, dass wir uns wegen unserer unterschiedlichen Meinung zu diesem Thema zerstreiten. Dafür haben wir beide einfach zu viel mitgemacht. Irgendwann ist die ZTC Geschichte, entweder weil dieser Doe mit seinen Protesten Erfolg hat oder weil Veyron die Company ans Messer liefert. Ich will danach wieder ein normales Leben führen. Gemeinsam mit dir, Seite an Seite.«
Vanessa machte einen Schritt auf ihn zu, nahm seine Hände in die ihren und küsste ihn. Sie lächelte. »Hey, ist doch klar. Mein tapferer Tom, immerzu der edle Ritter. Das macht dich so besonders. Seite an Seite mit dir, das will ich auch.«
Der Bann war gebrochen. Erneut küssten sie sich, diesmal leidenschaftlich. Für die kommenden Stunden hatten sie nur Zeit für einander, wobei sie das „Seite an Seite“ sehr wörtlich nahmen.
Der nächste Morgen begann mit einer Nachricht von Wimille: Vorladung beim CID vorerst aufgehoben. Inspector Gregson hat den Fall übernommen. Tom musste kichern, als er das auf seinem Smartphone las. Wie frustriert und wütend Sergeant Palmer sein musste, konnte er sich leicht ausmalen. Keine Leichen, keine Verdächtigen, der Mord von allen Zeugen geleugnet und dann nimmt ihm sein Boss auch noch den Fall weg und schmeißt alles um.
Es dauerte nicht lange, bis eine weitere Nachricht eintraf. Diesmal von Veyron: Bist du wach? Notfall! Komm sofort!
Tom sprang fluchend aus dem Bett. Vanessa wachte auf. Um Orientierung ringend, schaute sie zu ihm auf.
»Was ist los?«
»Ein Notfall bei Veyron. Bestimmt ist es die Company«, rief Tom, schlüpfte in seine Hosen und sein T-Shirt.
Als sie das hörte, zögerte auch Vanessa keinen Moment mehr länger. »Die Company? Dann komme ich mit!«
Zuerst wollte Tom widersprechen, aber er wusste, wie wenig das helfen würde. In Elderwelt hatten sie gemeinsam gegen die Schrate und Söldner der Schwarzen Horde gekämpft. Vanessa ließ sich auf keinen Fall zurückhalten, wenn es gegen ihre Erzfeinde von der ZTC ging.
Kaum angezogen, rannten sie beide hinunter auf die Straße, sprangen in Toms Käfer und rasten mit Vollgas durch Harrow. Die Beschleunigung des modifizierten Oldtimers war außerordentlich. Selbst die stärksten Sportwägen konnten kaum mit dem alten Käfer mithalten. Weder interessierten sie Geschwindigkeitsbegrenzungen noch Vorfahrtsregeln oder rote Ampeln. In Rekordzeit bremste Tom mit quietschenden Reifen vor der 111 Wisteria Road. Ohne lange nachzudenken, stürmte er zum Eingang, sperrte die Tür auf und sprang in den Flur. In diesem Moment kam ihm, dass er vollkommen unbewaffnet war und vielleicht gleich den Killern der Company gegenüberstand. Vanessa war dicht hinter ihm, ebenso unbewaffnet. Im ganzen Haus war es totenstill. Von Veyrons Labyrinth war nichts zu sehen. Alles schien seltsam ruhig. Von Eindringlingen weit und breit keine Spur.
»Sehen wir oben nach«, meinte Tom mit einem Schulterzucken. Vanessa nickte. Die Entschlossenheit in ihren blauen Augen beeindruckte ihn. Egal was passieren würde, Vanessa wäre an seiner Seite.
Tom trat auf die erste Stufe, die laut und deutlich knarzte. Falls sich wirklich Feinde in diesem Haus befanden, wäre er jetzt entdeckt.
»Im Wohnzimmer, Mr. Packard!«, erschallte gleich darauf ein lauter Ruf.Es war Veyron.
Tom fluchte, sprang von der Treppe und hastete ins Wohnzimmer. Dort saß Veyron Swift, entspannt und listig lächelnd in seinem großen Ohrensessel, den alten Morgenmantel um seinen schlaksigen Körper gewickelt, in der Rechten eine Tasse Tee. Sie dampfte noch und erfüllte den ganzen Raum mit einem erfrischenden Aroma.
»Earl Grey?«, fragte Tom.
»Pekoe. Das Geschenk einer reizenden Klientin. Herrlich zum Entspannen.«
»Wo ist der Notfall, Veyron?«, fragte Vanessa. Veyrons Lächeln wuchs noch einmal in die Breite.
»Hier«, sagte er und hielt den kleinen Armbrustbolzen der Attentäter hoch.
Vanessa knurrte zornig. »Das ist kein Notfall! Was soll der Scheiß?«
»Das kommt auf die Betrachtungsweise an, Miss Sutton. Ihre scheint mir wie üblich beschränkt. Ich bin auf etwas gestoßen, das durchaus einem Notfall gleichkommt. Seht es euch an«, sagte er und winkte die beiden näher. Auf seinem Schoß lag ein altes Buch, ein richtig dicker Wälzer, der, ungezählte Male durchgeblättert, vom Leim nur mehr schlecht als recht zusammengehalten wurde. Eine Seite war aufgeschlagen, die mehrere Symbole zeigte. Veyrons dünner Zeigefinger deutete auf eine kleine Figur in der zweiten Reihe der Symbole. Es war das gleiche wie auf dem Bolzen.
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