Tom stieg aus, sperrte den Wagen ab, stapfte hinüber zur Haustür und klingelte. Eine verschlafene Männerstimme meldete sich an der Sprechanlage. »Wer da?«
»Tom.«
»Welcher Tom?«
»Tom Packard. Welcher Tom soll es denn sonst sein?«
»Sag: bitte mach die Tür auf, Herb «
»Ich trete gleich die Tür ein, Herb!«
»Okay, das lass ich auch gelten.«
Es summte und das Schloss schnappte auf. Kopfschüttelnd öffnete Tom die Tür. Mit was für schrägen Vögeln war Vanessa da nur zusammengezogen? Oben angekommen, öffnete ihm Becky, WG-Mitglied Nummer Zwei. Kleinwüchsig und verschwiegen. Von der Statur her könnte sie als Zwergin durchgehen — ihr fehlte lediglich der Backenbart.
»Guten Abend, Becky. Gerade aufgestanden?«
Tom bekam nur ein unverständliches Grunzen zur Antwort. Becky besaß die Angewohnheit, oft den Großteil des Tages zu verschlafen, aber dafür die ganze Nacht durchzumachen.
Vom Flur führte der Weg in die Küche an zwei weiteren Zimmern vorbei. Aus dem von Marcus, dem letzten WG-Mitglied, drang violetter Qualm hervor. Tom runzelte die Stirn. Was mochte der Junge da drin nur anstellen? Hoffentlich fliegt uns die Bude nicht um die Ohren , dachte er. Schließlich stand er vor der Küche, wo er Vanessa beim Kaffeemachen fand.
Im hellen Schein der Deckenlampe schien es ihm, als hätte der Himmel selbst sie geschaffen. Das dünne Nachthemd vermochte ihre reizende Figur kaum zu verhüllen, wirkte fast durchscheinend. Im Lauf des letzten Jahres war sie zu einer richtigen Frau gereift, schöner, sinnlicher und an den richtigen Stellen runder.
Vanny war für ihn der Inbegriff von Schönheit, ein wahres Geschenk. Er durfte sich unglaublich glücklich schätzen, das wusste er. Mit ihr zusammen zu sein, kam ihm wie die Erfüllung eines lang gehegten Traums vor. Dabei hatten sie gar keinen guten Start hingelegt und sich jahrelang nicht ausstehen können. Vor zwei Jahren mussten sie sich notgedrungen zusammenraufen und entdeckten ihre Liebe. Genau das war es, was diese Beziehung in Toms Augen umso wertvoller machte. Sie hatten ums Überleben gekämpft, Seite an Seite, Rücken an Rücken. Das ist die Frau, mit der ich alten werden möchte , dachte er grinsend. Da war er sich felsenfest sicher.
Noch schien sie ihn nicht bemerkt zu haben.
Vorsichtig schlich er zu ihr hinüber und schlang seine Arme um ihre Taille. Seine Vanny. Zärtlich schob er mit der Nase ihr blondes Haar zur Seite und küsste sie in den Nacken. Früher hätte er ihre goldenen Locken um seine Finger geschlungen, doch seit einiger Zeit trug Vanny lieber eine freche Bobfrisur. Sie drehte sich in seiner Umarmung um, und er küsste die kirschroten Lippen ihres engelhaften Gesichts. Er stellte fest, dass sie von Kopf bis Fuß zitterte — ganz sicher nicht wegen des Kusses.
Noch bevor er etwas zur Begrüßung sagen konnte, fiel sie ihm regelrecht um den Hals. Sie umarmte ihn und drückte sich fest an ihn.
»Gottseidank«, japste sie. »Es kommt die ganze Zeit schon in den Nachrichten. Überfall auf das Atelier . Man spricht von Explosionen, von einer Schießerei und von zahlreichen Toten. Man sieht Veyron und dich im Fernsehen.«
»Äh … im Fernsehen? Wir sind im Fernsehen?«
Vanessa deutete hinauf zum Küchenschrank, wo ein kleiner Fernseher zwischen mehreren Keksdosen stand. Sie küsste ihn wieder und schluchzte. »Ich hatte schon gedacht, sie hätten dich vielleicht getötet. Die Bilder sind alle verwackelt. Es hätte alles mögliche passieren können!«
Tom nahm sie in seine Arme, streichelte über ihren Kopf und küsste sie auf die Stirn. »Uns ist nichts passiert«, versicherte er ihr. »Es gab nur eine kleine Prügelei mit einem der Attentäter. Du wirst nicht glauben, wer es war.« Er beugte sich zu ihr und flüsterte: »Owain Grady.«
Vanessa stand der Mund offen. »Du meinst doch nicht den Owain, den wir in Elderwelt kennengelernt haben? Einer der vier Leute, die von der Schwarzen Horde desertiert sind?« Sie schauderte.
»Doch, genau den. Owain Grady aus Wales, Ellen Summers und Sarah Lansdale aus New York und Jordi Arambula aus Spanien«, bestätigte Tom. Die vier jungen Leute waren vor über zwei Jahren von zuhause ausgerissen und hatten sich von den Handlangern der Zaltianna Trading Company nach Elderwelt locken lassen, um sich dort der Schwarzen Horde anzuschließen. Alle Vier hatten es rasch bereut und sich schließlich auf Veyrons Seite geschlagen.
»Wir hatten bis vor kurzem noch über Instagram Kontakt«, meinte Vanessa. Sie war kreidebleich geworden. Schließlich holte sie tief Luft, als stünde ihr eine enorme Anstrengung bevor. »Sie waren genauso ungeduldig wie ich, wann es dieser verfluchten Company endlich an den Kragen geht. Du weißt, was sie durchmachen mussten.« Plötzlich schnalzte sie mit der Zunge und ihre Wangen gewannen ein gesundes Rot. »Du bist ganz sicher, dass es Owain war? Er war wirklich einer der Angreifer?«
»Vanessa, ich habe ihm fast die Nase gebrochen. Er und diese langbeinige Hexe haben zwei Vampire ausgeschaltet und ein halbes Dutzend weiterer in Schach gehalten, ehe Veyron und ich eingriffen«, sagte Tom.
»Dann hat Owain die Sache selbst in die Hand genommen. Er wollte nicht darauf warten, bis dein Veyron irgendetwas gegen die Company unternimmt. Das kann ich verstehen.« Schlagartig hatte sich ihre Sorge in einen zornigen Trotz verwandelt. »Vielleicht sollten wir das Gleiche tun, vielleicht hat Owain recht.«
Tom machte große Augen. »Recht? Mit was? Vanessa, er hat geholfen zwei Vampir zu töten!«
»Ja, vielleicht ist es so. Aber ich verstehe, dass er sich rächen will und die Company und ihre Anführer vernichten. Mit der Ansicht ist er nicht allein auf der Welt. Schau nur.«
Sie deutete zum Fernseher. Wie jeden Tag liefen die Nachrichten. Auf dem kleinen Schirm war deutlich zu sehen, wie hunderte von Menschen vor der Konzernzentrale der Zaltianna Trading Company standen. Sie skandierten in Sprechchören Parolen wie „Raus mit der Mörderbande!“, „Verhaftet Avron Zaltic!“, „Enteignet die Aktionäre!“. Das Bild wechselte zu einem Reporter, der sein Mikro einem untersetzten, blassen Mann mittleren Alters mit auffallend blondiertem Scheitel ins Gesicht hielt. John Cyrus Doe, der Parteivorsitzende der ominösen Bewegung Make-England-Great-Again , kurz MEGA. Von ihm hatte Tom in den letzten Monaten mehr gesehen, als ihm lieb war.
Aus MEGA wurde Tom nicht so recht schlau. Mal gaben sich ihre Vertreter linksradikal und kapitalfeindlich, ein andermal dagegen erzkonservativ, und wenn es der Beliebtheit diente, sogar wirtschaftsliberal. Egal welche Haltung die Vertreter anderer Parteien einnahmen, die Leute von MEGA standen in Opposition dagegen. Protest schien in der Tat die einzige Konstante im Parteiprogramm von MEGA zu sein. Immerhin konnte sie bei den letzten Wahlen genug Stimmen einheimsen, um ins Parlament einzuziehen.
Seit dem Beginn der MEGA-Proteste gegen die ZTC schien aber auch Vanessa wie ausgewechselt. Mit jedem Tag wurden ihre Ansichten radikaler und feindseliger. Was war nur los mit ihr? Das brachte ihn auf etwas Neues.
»Hast du nicht gesagt, Veyron und ich wären im Fernsehen?«
»Ja. Auf allen Kanälen. Es laufen dauernd Sondersendungen. Ich zeig’s dir«, sagte sie, sichtlich erleichtert, dass sie das Thema wechseln konnten. Ihr schien es wie ihm zu gehen; nur umgekehrt. Vanessa fehlte das Verständnis, warum Tom so zögerlich und vorsichtig mit der Company umging. Vielleicht wäre es klüger, sie würden dieses Thema in Zukunft ganz meiden.
Sie schaltete das Programm um und erwischte gerade das Interview einer jungen Reporterin mit John Cyrus Doe. Im Hintergrund war eine Polizeiabsperrung vor dem Atelier zu sehen.
Begeisterung weckte das bei Tom nicht gerade. Offenbar war dieser Demagoge im Moment auf allen Kanälen, und dann auch noch zur vollkommen falschen Zeit. Natürlich war Doe gerade mal wieder gegen irgendetwas.
Читать дальше