»Das muss Erfindung sein. In allen Predigten der Kleriker wird gesagt, dass die Hölle sieben Kreise hat, bewacht von schrecklichen Dämonen, den Schatten. Der Eine ist ihr Meister und er bewahrt uns vor ihrem Zorn. Doch nur, wenn wir artig beten und unsere Opfer bringen.«
Nun horchte Tom auf. Anfangs hatte er bei dem Einen auf eine dem Christentum ähnliche Religion geschlossen. Doch nun klang das eher nach einer hinterlistigen Teufelei.
»Was sind das für Opfer?«, wollte er wissen.
»Fleiß und Arbeit bis zum Lebensende. Die Hälfte von allem, was unsere Hände schaffen, ist für den Einen. Als Pfand, damit uns die Schatten nicht holen, wenn wir nach dem Tode in die andere Welt übertreten. Sünder müssen alles abgeben, wenn sie ihr Seelenheil nach dem Tode bewahrt wissen wollen.«
Veyron dachte eine ganze Weile über Ælfthryths Worte nach.
»Ælfwine sagte, Abulon liegt im Osten von Caralantion. Was spricht der dortige König zum Leben auf dieser Insel?«
»Ach, Herr Veyron. Ihr wisst wahrlich wenig von Abulon. Vor Urzeiten galt dieser Ort als das Paradies Caralantions. Man ließ Apfelwälder hier wachsen, um die Menschen zu ernähren. Im Frühjahr, so erzählt man sich, war die ganze Insel ein einziges Blütenmeer. Die edelsten Herren wurden einst hier bestattet, in großartigen Gräbern aus glitzernden Steinen. Doch eines Tages haben sich die Könige von dieser Insel abgewandt. Piraten und Südlinge überfielen die Küsten, die Wasserwege wurden unsicher. Städte wurden geplündert und brannten nieder, die Seeräuber raubten die Königsgräber aus. Die Apfelwälder verschwanden, und von Jahr zu Jahr lebte es sich schlechter auf Abulon. Kriege brachen aus und schreckliche Seuchen rafften die Menschen dahin. Neue Fürstentümer erhoben sich und gingen ein paar Jahre später wieder unter. Heute kommen nur noch selten Schiffe in den Hafen von Tilaburh, drei Tagesmärsche von hier. Wenn man Glück hat, kann man dort eine Apfelernte gegen Wolle oder Fisch tauschen. Sonstigen Kontakt zu anderen Ländern gibt es nicht. Meine Großmutter erzählte mir, dass erst in ihrer Generation der Frieden zurückkehrte. Die Earls der sieben Fürstentümer beendeten ihre Feindseligkeiten, und seitdem regiert wieder ein König. Ein König von Abulon für Abulon.«
»Ein Scheiß-König ist das«, merkte Vanessa zornig an. Der tadelnde Blick Ælfthryths traf sie einen Moment später.
»Ihr sprecht wie ein Gossenmädchen, schämt Euch!«
»Sorry. Aber es stimmt doch!«
»Kennt Ihr den König, Lady Vanessa?«
»Nein, woher auch?«
»Dann steht Euch kein Urteil über ihn zu!«
Der Tonfall Ælfthryths reichte, um Vanessa verstummen zu lassen.
»Kennt Ihr denn den König, Mylady?«, fragte nun Veyron.
»Nein, Herr Veyron. Niemand hier hat jemals den König gesehen. Die hohen Herren kommen nicht in unsere Gegend. Nur seine Herolde, die kennen wir.« Ein Schaudern ging durch ihren Körper.
»Was ist mit Eurem Gatten?«, wollte Veyron jetzt wissen.
»Er starb vor drei Jahren. Ein Grubenunglück. Mein Ælfwine ernährt uns jetzt.« Sie winkte ihren Sohn her, der mit strahlenden Augen herbeikam. Seine Schwestern folgten kurz darauf, drückten sich in einer Mischung aus Neugier und Furcht eng an ihre Mutter. Tom schenkte den beiden Mädchen ein freches Augenzwinkern, um ihnen die Angst zu nehmen.
»Das ist die kleine Cynegyth, und die Ältere heißt Cwenthryth. Sie haben gute Zähne und sind gesund«, sagte Ælfthryth schließlich. Eindringlich starrte sie Tom an.
»Was? Wie? Ich verstehe nicht …«
»Sie werden Euch gute Dienste leisten, wenn Ihr sie mitnehmt. Sie sind gut erzogen«, fuhr Ælfthryth fort. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen.
»Wir sind nicht hier, um Euch die Kinder wegzunehmen, Mylady«, versicherte ihr Veyron so ruhig wie er konnte. Ælfthryth konnte sich nicht mehr beherrschen. Aus ihr sprach die nackte Verzweiflung.
»Bitte, Herr! Viel zu Essen gibt es nicht und sie brauchen jeden Tag mehr, weil sie wachsen. Ein Laib Brot am Tag ist hart verdient und es geht auf den Winter zu. Ich weiß nicht, wie ich …« Sie stockte, warf der nahen Spindel und dem Webstuhl einen Blick zu. »Es gibt kaum mehr Garn, das man bezahlen kann.«
Ihre großen, dunklen Augen suchten die von Veyron. »Ich gebe Euch alles, was Ihr verlangt, Herr. Ich flehe Euch an, nehmt meine Töchter mit nach Talassair.«
Die beiden Mädchen drückten sich noch fester an ihre Mutter, als spürten sie, was vor sich ging. Wie es schien, verstanden sie kein Talassenglisch. Zum Glück, wie Tom fand.
»Ælfwine, bring Cwenthryth und Cynegyth nach draußen. Besucht die alte Beolead und bringt ihr die Reste unseres Abendmahls. Sie freut sich sicher«, befahl Ælfthryth plötzlich. Der Junge nickte misstrauisch, sagte etwas zu den Mädchen. Mit neuer Begeisterung sprangen sie auf und eilten ins Freie. Ælfwine folgte ihnen. Misstrauisch beäugte er Veyron, Tom und Vanessa, ehe er ins Freie trat.
Ein paar Minuten vergingen in vollkommener Schweigsamkeit. Erst als sie sicher zu sein schien, dass die Kinder sie nicht belauschten, ergriff Ælfthryth wieder das Wort. »Ælfwine kann noch nicht so hart arbeiten wie sein Vater, und die Kleriker zahlen immer schlechter. Ich kann mir kein Garn mehr leisten, weil ich drei Mäuler stopfen muss. Die kleine Cynegyth leidet an Husten, und einen Bader gibt es hier nicht. Ich weiß nicht, ob sie den Winter durchhält. Herr, ich flehe Euch an, habt Mitleid. Nehmt wenigstens sie mit nach Talassair. Ich …« Sie schluckte und fasste sich an die Fibel, die ihren Habit unter dem Kinn zusammenhielt. »Ich bin vielleicht nicht mehr die Jüngste, doch noch immer fruchtbar, Herr. Wenn Ihr das als Preis verlangt, dann …«
Bevor sie weitersprechen konnte, schnellten Veyrons Hände vor und fassten die Ihren. »Mylady«, sagte er mit tiefer, beruhigender Stimme. »Ich verstehe Eure Verzweiflung, dennoch könnt Ihr uns Eure Kinder nicht anvertrauen. Wir reisen nicht zurück nach Talassair, sondern haben noch Aufträge in anderen, weitaus gefährlicheren Ländern vor uns. Sie wären bei uns nicht in Sicherheit. Morgen kommen die Herolde des Königs. Bruder Offa hat nach Ihnen geschickt. Wenn ich Eure Reaktion von vorhin richtig interpretiere, sollte man diese Männer wohl besser fürchten. In unserer Gesellschaft droht den Mädchen nichts anderes als Gefahr.«
Ælfthryth brach in Tränen aus. Sie fiel Veyron um den Hals. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie festzuhalten und zu trösten. Tom kämpfte gegen einen Kloß in seinem Hals. Noch nie hatte er seinen Patenonkel dermaßen hilflos gesehen. Ihm erging es nicht anders. Wie es aussah, gab es tatsächlich nichts, was sie für diese arme Frau und ihre Kinder tun konnten.
Der nächste Morgen startete mit einem recht kargen Frühstück, ein paar Stücke Zwieback für jeden und einen Becher kalten Tee. Wie üblich war Veyron als Erster auf den Beinen und bereits aus dem Haus, während Tom und Vanessa noch frühstückten. Ælfthryth ließ die beiden dabei nicht aus den Augen, die Mädchen dagegen nicht den Zwieback. Vanessa schenkte jedem von ihnen je ein Stück, dann auch eines Ælfthryth, und ein weiteres Stück wollte sie für Ælfwine aufheben. Genau wie Veyron war der Junge nicht mehr anwesend. Seine Mutter erzählte, dass die Arbeit in den Stollen bei Anbruch des Tages begann. Nach dem Zwieback-Geschenk zeigte sich Ælfthryth gegenüber Vanessa sehr viel aufgeschlossener. Sie stellte viele Fragen zu Talassair, die Vanessa mit viel Einfallsreichtum beantworten musste. Vanny war ja selbst noch nie dort gewesen, was Ælfthryth natürlich nicht wissen durfte.
Tom entschied, die beiden Frauen allein zu lassen und nach Veyron zu suchen. Er schlüpfte in seine Jacke und begab sich nach draußen. Tiefer Nebel hing über dem Minendorf, man konnte kaum weiter als zwanzig Meter sehen. Lediglich das Klopfen hunderter Hämmer und Pickel verriet die Nähe des furchtbaren Betriebes. Tom schlug den Pfad zum Dorfplatz ein, wo die Händler ihre Zelte bereits wieder aufgeschlagen hatten. Viel Andrang herrschte zu dieser frühen Stunde noch nicht. Die wenigen Leute drehten ihm sofort den Rücken zu, als er sich näherte. Lediglich ein einziger Händler, der getrocknete Aprikosen verkaufte, zeigte sich freundlich. Die Verständigung mit ihm erwies sich als einigermaßen schwierig, denn weder sprach der gute Mann Talassenglisch noch Latein. Schließlich formte Tom mit den Händen Veyrons markante Adlernase nach, was der Händler zu verstehen schien. Lachend zeigte er ihm einen Weg, den Hang des Berges hinauf.
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