Noch einmal gehen ihr die Gedanken des Abends durch den Kopf. Einerseits vergisst man ein so emotional vorgetragenes Thema nicht so leicht, zum anderen hat sie etwas schwarz auf weiß, was nicht mit Einbildung zu erklären ist.
Es ist warm im Zimmer. Der Oktober kommt in diesem Jahr wie ein verspäteter August daher. Wechselhaft zwar, aber Tage mit Temperaturen gegen zwanzig Grad sind nicht normal. Vielleicht deshalb, vielleicht aber auch, weil sie mit Madi allein lebt, trägt sie nachts nur ein ausgeleiertes T-Shirt. Irgendwann, als sie sich von Linus getrennt hat, fing das an. Schon vorher, als sie noch in übergroßer Liebe keine Nacht voneinander lassen konnten, hatte sie den Zweck ihrer hauchzarten Negligés infrage gestellt. Keine fünf Minuten blieb dieser Hauch von Textil auf ihrer Haut, den Rest der Nacht lag das Teil auf dem Bettvorleger oder zerknüllt am Fußende. Es hat sie nicht gestört, aber es gab bald keinen Grund mehr, ihr schwer verdientes Geld in derart nutzloses Zeug zu investieren, das überdies nicht halb so angenehm auf der Haut ist, wie ausgewaschene Baumwolle …
Es klingelt schon wieder, jetzt nicht mehr von unten her, sondern oben an der Wohnungstür. Das ist stets ein Moment, der ihre Sinne schärft und der ihren Beschützer-instinkt aktiviert. Aber Madi ist ja nicht da!
Erst jetzt schaut sie auf den kleinen Wecker an ihrem Kopfende. Gleich Neun. Also ist sie in ihrer Grübelei wieder eingeschlafen. Auch wenn ihr Herz noch heftig klopft, ihr Verstand ist normal. Wer da vor der Tür steht, ist ihr schlagartig klar. Sie selbst hat die Regeln aufgestellt und duldet keine Abweichung.
Als die Tür aufgeht und der große Mann mit den tiefschwarzen Augen und ihr kleines blondlockiges Mädchen im Türrahmen erscheinen, vergisst Nora sogar, wie sie herumläuft. Das Geplapper der Kleinen zaubert ein Lächeln auf Linus' Gesicht und sie selbst kann auch nur Freude empfinden.
»Sorry … ich war gestern noch aus«, stottert sie zur Entschuldigung, »und dann bin ich nach sechs Uhr noch mal eingeschlafen …«
Linus schaut auf ihre nackten Füße und lässt seinen Blick langsam nach oben wandern. Ganz sicher nicht, weil er sie attraktiv findet. Nicht an diesem Morgen – und überhaupt. Sie hätte sich wenigstens rasch ihr Haar bürsten können und den Jogginganzug überziehen.
»Erkälte dich nicht, es ist heute Morgen wider Erwarten verdammt frisch, nicht wahr mein Kuschelbärchen?« Linus nimmt Madi noch einmal auf den Arm, so wie er es immer hält, bevor er sich wieder verabschiedet. Doch Nora erinnert sich an etwas, was ihr in der Schlaftrunkenheit beinahe entfallen wäre. Sie tritt einen Schritt zurück und breitet die Hand in Richtung Zimmer aus.
»Dann koch ich uns schnell noch einen heißen Kaffee. Ich meine, wenn du nichts anderes …«
»Keine Umstände. Wir haben ausgiebig gefrühstückt«, sagt Linus, schreitet aber konsequent voran, als habe er auf diese Aufforderung seit Wochen gewartet. Er setzt das Kind erst ab, als er in Noras Wohnzimmer steht.
Solange der Kaffee durchläuft, schlüpft Nora in eine weiche Jerseyhose und ein leichtes Kapuzenshirt, bändigt ihr Haar mit einer breiten Spange im Nacken und spült hastig ihren Mund mit Wasser aus, dem sie rasch ein paar Tropfen Mundwasser zufügt. Linus hilft derweil Madi, den Mantel und die Schuhe abzulegen, und er holt ihre Hausschuhe hinter der Tür hervor. Als Nora das Zimmer betritt sitzt er bereits brav im Sessel und schaut sie erwartungsvoll an.
»Sekunde bitte«, sagt sie und zaubert prompt den Schalk in sein Gesicht.
»Übertreib 's nicht gleich.«
Er kann es noch, denkt sie und weiß doch, dass er Recht hat. Sie konnte sich nie beeilen, ließ ihn immer auf sie warten. Gewöhnlich jedenfalls. Er musste ja glauben, was Vater ihm an den Kopf geworfen hatte …
Heute ist es fast so wie früher. In der Küche überfallen sie kleine Hitzeschübe. Bisher hat sie geglaubt, dass ihr das alles nicht mehr passieren kann. Alles, was mit Linus zusammenhängt, sollte vergessen sein. Nur Madi nicht, weil sie das Resultat ihrer glücklichen Zeit ist. In der Hoffnung, ihn zu vergessen, wenn sie sich völlig neuen Interessen öffnet, hat sie sich Greta angeschlossen. Theater, Lesungen, Konzerte, sofern Madi versorgt war. Das alles gab es in ihrem Leben zuvor nicht wirklich, wenn nicht gerade ihre Eltern sie überrumpelt hatten.
»Bei dieser Lesung warst du gestern?« Linus hält das Buch in den Händen und blättert wahllos darin herum, liest hier und da ein paar Sätze, derweil Madi unterm Tisch mit dem neuen Magnetspiel hantiert.
… nicht einmal zu meinem Buch kann ich mich heute guten Gewissens bekennen, weil ich jetzt weiß, was passieren kann. Aber ich kann auch einem Lebensüberdrüssigen das Recht nicht absprechen, sich frei zu entscheiden. Wer selbstbestimmt lebt, muss auch selbstbestimmt sterben dürfen? … das Wie ist leider aus der Tabu-Zone gehoben. Was früher jemand ganz allein für sich entschied, wird heute auf uns alle abgeladen … Das will ich nicht beklagen, ich will auch keinem Menschen sein vermeintliches Recht absprechen, ich will nur mein eigenes Recht einfordern, die Dinge bei dem Namen zu nennen, den ich selbst diesen Dingen geben möchte.
Nora blickt ihn an, als habe er ihr ganzes Weltbild zerstört. Während sie die Tassen füllt, sagt sie in einem Ton, als ob sie nur nebenbei spricht: »Da gibt es noch mehr, was ziemlich bedenklich ist.« Sie zwingt sich zur Ruhe, dabei möchte sich alles in ihr überschlagen. Das darf sie nicht zulassen, nicht vor Linus. Derart abgeklärte Menschen schätzen weibliche Hysterie nicht besonders.
»Und das verrätst du selbstverständlich nicht. «
»Doch«, erwidert sie lächelnd, doch sie spürt, wie sie sich quält, ihre Lippen breit zu ziehen. »Es ist die Widmung.«
Erstaunlich, wie ruhig sie ihren kleinen Plan verfolgt. Sie blättert die Seiten zurück, tippt auf eine Stelle, aber zugleich fordert die andere Hand ihn wortlos auf zuzugreifen. Linus denkt nicht daran. Sein Blick bleibt beim Buch und Nora ist, als interessiere ihn in der Tat wovon sie spricht. Das Gefühl hat er ihr früher selten gegeben. Sie kann es spüren: Auch er glaubt seinen Augen nicht zu trauen. Vorsichtig, wahrscheinlich um sicher zu sein was er ihr zumuten kann, spricht er aus, was sie so sehr erwartet hat: »Das ist eine Botschaft. Sie gibt dir hier eine klare Botschaft. Hat sie nichts gesagt?«
»Nein …! Doch. Sie wusste, wer mein Vater ist.«
Linus hält seinen Blick fest auf Nora gerichtet, seine Mundwinkel aber zieht er nach unten.
»Schwierig.«
Was sollte er jetzt auch sagen. Er kann schließlich nicht von ihr verlangen, ihren Vater im selben Licht zu sehen, wie er ihn sieht.
»Wenn ich die Zeitung richtig deute, sieht man in dem Buch eine deutliche Enthüllung. Ich wette, da steht einiges drin, wovon niemand etwas weiß …«
»Du hast noch nichts gelesen?«
»Ja wie denn«, sie schaut nicht direkt zu Madi, letztlich weiß doch jeder was es bedeutet, Haushalt, Arbeit und Kind zu vereinbaren. »Und ich werde auch so schnell nicht alles lesen können.«
»Nora, wenn du dich wohler fühlst, der Sache auf den Grund zu gehen, kannst du auf mich zählen. Und wenn ich dir nur Madi abnehme. Ich kenne dich …«
»Linus, da steht ein Kreuz, wo das Datum hingehört. Wenn da etwas läuft … Es geht immerhin ums Sterben.«
»Ruf sie doch einfach an.«
»Nein, das kann ich nicht. Wenn sie gewollt hätte, dass ich mit Vater …«
»Dann rufe ich sie an. Mich kennt sie nicht.«
»Was willst du sie denn fragen. Hallo, haben Sie vor etwas Angst?« Noras Stimme überschlägt jetzt doch, und es ärgert sie sofort. Linus atmet schwer. Motorisch nimmt er von Madi entgegen, was sie ihm vor sich hin plappernd reicht, aber er nimmt vermutlich zum ersten Mal an diesem Morgen nicht wahr, was das Kind mit seinem Spiel bezweckt.
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