„Erzähl doch keine Märchen!“, konterte Monika provokant. „Ich kann keine Werte entdecken, wenn eine alte Frau von Kindern in den Ofen gestoßen wird, ein armer Wolf im Schlaf erschossen oder ein kleiner Frosch als Dank für seine Hilfsbereitschaft an die Wand geklatscht wird!“, fügte sie ungnädig hinzu.
„Das Märchen bestraft eben die Bösen und belohnt die Guten“, meinte der Maler und warf ihr einen leicht vorwurfsvollen Blick zu.
„Womit bewiesen wäre, wie wirklichkeitsfremd diese Lügengeschichten sind.“
„Märchen sind keine Lügengeschichten!“
„SIND. SIE. DOCH!“, herrschte sie ihn an. „Unglaubhaft und frei erfunden! Weißt du, woran man das erkennt?“, funkelte sie ihn an, und als er nichts sagte, beantwortete sie ihre Frage selbst: „Weil der Prinz immer reich, attraktiv, nett und obendrein auch noch ein Single ist!“
Obwohl Vincent nicht zum Lachen zu Mute war, konnte er ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er spürte ihren Ärger und die Tatsache, dass sie jeden Augenblick vor Wut zerplatzen konnte, erheiterte ihn. Zumindest ein bisschen.
„Das sehe ich nicht so“, meinte er. „Viele kleine Mädchen werden dir jederzeit bestätigen, dass ihre Märchenprinzen sehr glaubhaft sind!“
„Dieses hier nicht!“
„Du bist ja auch kein kleines Mädchen, sondern ein großes!“, hielt er entgegen.
Ihre Blicke kreuzten sich wie Klingen und Monika spürte, dass er sie absichtlich ärgerte, was sie noch mehr zur Weißglut trieb. Daher beschloss sie, den Spieß umzudrehen. „Märchen sind lebensverachtend und irreführend!“, ging sie in die Offensive.
„Nein, das sind sie nicht“, schüttelte Vincent seinen Kopf. „Sie bereiten auf das Leben vor und zeigen, dass der Alltag nicht nur aus Erfolg, Glück und Freude sondern auch auch Angst, Intrige und Bestrafung besteht. Trotzdem vermitteln sie eine positive Einstellung zum Leben.“
„Das glaubst du ja selber nicht!“
„Und ob! Nimm doch Aschenputtel als Beispiel. Das Mädchen wird von seiner Stiefmutter und ihren Töchtern täglich schikaniert und zeigt trotz der verzweifelten Situation innere Stärke und Durchhaltevermögen, bis sich ihr eine Chance auf ein besseres Leben bietet. Ihr Ringen gegen die täglichen Widrigkeiten spiegelt anschaulich den Alltag des menschlichen Lebens wider.“
„ Das nennst du eine positive Einstellung?“, fragte Monika und sah den Maler fassungslos an. „Also mir käme diese sehr schnell abhanden, wenn ich täglich Gemüse aus dem Dreck klauben müsste und mir niemand dafür eine vernünftige Erklärung geben könnte.“
„Es waren Hülsenfrüchte, die sie auslesen musste, meine Liebe“, wurde sie von Vincent verbessert. „Um genau zu sein, Linsen. Linsen aus der Asche und nicht aus dem Dreck!“, fügte er neunmalklug hinzu. Ihre Blicke trafen sich abermals, und der Maler fühlte sich wie in Eiswasser getaucht.
„Mir doch egal!“, entgegnete sie schnippisch.
„Auch wenn du einen hübschen und steinreichen Prinzen abbekommen würdest?“, zog Vincent seine Augenbrauen zusammen, „und wie eine echte Prinzessin leben könntest?“
„Wer will das denn!“, rief Monika gereizt, „wo doch jeder weiß, wie empfindlich und überdreht diese Zicken sind. Kein Wunder, dass die Märchenkönige den Königsöhnen mindestens ihr halbes Reich anbieten müssen, damit diese ihre Bräute nicht woanders suchen. Prinz Werauchimmer weiß schon, warum er Aschenputtel diesen überzogenen und weltfremden Tussis vorzieht. Der Grund dafür ist, dass sie wie ein Pferd arbeitet, noch dazu gratis und ihre Situation noch nicht einmal in Frage stellt. Was für eine bescheuerte Hoffnung auf Gerechtigkeit!“, meinte die junge Frau spöttisch und sah Vincent so verbissen ins Gesicht, dass er abermals lächeln musste.
„Das Leben ist auch für Prinzessinnen nicht immer rosarot, Monika!“, erklärte er. „Weder im Märchen noch im echten Leben.“
„Das ist aus den Klatschblättern einschlägig bekannt“, gab die junge Frau spitz zurück. „Trotzdem sind Märchen nichts weiter als lächerliche Lügengeschichten, die jeder Wirklichkeit entbehren. Außerdem finde ich es bedenklich, wenn sich die angeblich Guten ihre Lorbeeren durch Quälerei und Vernichtung der vermeintlich Bösen verdienen, damit durchkommen und am Ende auch noch mit halben oder ganzen Königreichen belohnt werden.“
Damit hatte sie nicht ganz Unrecht, musste Vincent zugeben, weshalb er die Augen zusammenkniff und über das Gesagte nachdachte. Dann räusperte er sich, während er sich zurücklehnte. Einen Moment lang glaubte er, seine Müdigkeit in allen Knochen zu spüren und senkte die Lider. „Nimm dich zusammen!“, mahnte er sich, hob den Kopf und begegnete erneut ihrem anklagenden Blick.
„Dieses bescheuerte Hoffen , um deine Worte zu wiederholen, ist wichtig, um im Märchen Ängste zu bewältigen“, bemerkte er schließlich nach einer Weile unangenehmen Schweigens.
„Die wir ohne sie erst gar nicht hätten“, fiel ihm Monika ins Wort.
Vincent öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch es fiel ihm kein überzeugendes Argument ein, und seine Freundin sah sich bereits als Siegerin des Duells.
„Möchtest du vielleicht noch eine Tasse Kaffee?“, fragte sie triumphierend.
„Nein, danke“, lehnte er kühl ab. Dabei musterte er ihr geschminktes Gesicht und wünschte sich von ganzem Herzen, ihr überhebliches Grinsen daraus fortwischen zu können.
„Trotzdem“, nahm Vincent den Faden wieder auf, „sind Märchen wichtig, da sie unsere Fantasie beflügeln“. Mit diesen Worten beugte er sich nach vor, um ein paar Brotkrumen von seiner Hose zu streifen. „Davon gibt es nicht mehr viel in unserer technokratischen und ausschließlich am Geld orientierten Welt!“
„Komm mir ja nicht so“, erwiderte Monika mit einem zornigen Unterton in ihrer Stimme. „Mit all ihren Rohheiten und Grausamkeiten sind Märchen im Hinblick auf eine vernünftige Fantasie keinen Pfifferling wert!“
„Fantasie ist nicht vernünftig“, rief Vincent und biss sich sogleich auf seine Unterlippe, da sie ihn dazu gebracht hatte, sie nicht ausreden zu lassen.
„Da habt ihr ja etwas gemeinsam“, stichelte die junge Frau und verzog dabei ihr Gesicht zu einer Fratze, so dass Vincent sich ernsthaft fragte, was er jemals an ihr gefunden hatte.
„Bin ich wirklich unvernünftig, weil ich nicht bereit bin, meine Seele für Geld und Karriere zu verkaufen?“, fragte er aufgewühlt.
„Nein, du bist unvernünftig, weil du nicht einsehen willst, dass du von deiner Malerei nicht leben kannst. Es ist nun mal eine allseits akzeptierte Tatsache, dass der Mensch Geld braucht, um sein Leben zu bestreiten. Wenn du genug verdienst, um deine Rechnungen zu bezahlen, kannst du dich gern acht Stunden vor deine Staffelei hinstellen und falls es dich glücklich macht, auch in deinen Farbtöpfen baden!“
Vincents Miene verfinsterte sich. Geld war ein wunder Punkt in seinem Leben, da er als Künstler nicht so viel verdiente, wie er brauchte, um seine Rechnungen zu bezahlen. Das Haus, das ihm seine Großmutter hinterlassen hatte, verschlang große Summen, und seine finanziellen Reserven schmolzen dahin. Der Erlös, den seine Bilder und Porträts einbrachten, reichte oft nicht einmal aus, um sein Essen zu bezahlen. Der junge Mann schauderte bei dem Gedanken an sein finanzielles Fiasko, war aber trotzdem nicht bereit, seinen Standpunkt aufzugeben.
Monikas feine Antennen schienen dies zu spüren, daher beschloss sie, ihren letzten Trumpf auszuspielen.
„Deine Ersparnisse und das bisschen Geld, das dir deine Großmutter hinterlassen hat, werden nicht ewig reichen, Vince. Leider wirst du mit dem Verkauf deiner Bilder ihr Haus nicht behalten können!“, betonte sie eindringlich und war davon überzeugt, dass die sorgsam gewählten Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. Das taten sie auch nicht. Vincent fühlte sich bis ins tiefste Innere elend. Der Stich in seiner Brust tat nicht halb so weh, wie das Gefühl, ein kompletter Versager zu sein. Das Schlimmste war, dass seine Freundin Recht hatte. Bald war er tatsächlich nicht mehr in der Lage, seine finanziellen Probleme in den Griff zu bekommen. Resignierend spürte er, wie Monika seine Hand tätschelte.
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