Das war zwar ein bisschen gemogelt, aber Vincent wollte seine Grübeleien für sich behalten. Seine Lippen wurden schmal und sein Blick wanderte einmal mehr gedankenverloren über die Gräser und Wasserstellen.
„Schneellllll!“, drängte Farbenfein den kleinen Sonnenstrahl, presste ihren Rücken mit aller Kraft gegen die kalte Wand und versuchte so, den gelockerten Stein wieder in die Mauer zurück zu schieben. Dabei wurde Sunny unsanft aus dem Verlies gedrängt, was ihm nicht sonderlich gefiel. Keine Sekunde zu früh, denn abermals wurde die Türe aufgerissen und wieder strömte graues Licht in den Raum. Farbenfein sammelte alle ihre Kräfte, obgleich sie wusste, dass sie einer weiteren Auseinandersetzung mit der Grauen Hexe nicht gewachsen war. Ein leichter Schwächeanfall machte sich in ihren Gliedern breit und sie grub ihre Zähne tief in die Unterlippe, während sie um Haltung bemüht war. Kurz darauf erschien Monotonia, die abermals ihren Blick scharf durch die Kammer schweifen ließ.
„Habe ich hier etwa Stimmen gehört?“, fuhr sie Farbenfein an, während ihr Blick unheilvoll auf das Mädchen geheftet blieb, das sich um Gelassenheit bemühte, damit ihr kleines Geheimnis nicht aufflog.
„Antworte gefälligst oder hat es dir plötzlich die Sprache verschlagen?“, fuhr die Hexe ihre Gefangene an, die sich von ihrem Erscheinen offenbar nicht aus der Ruhe bringen ließ.
Trotz der demütigenden Umstände und der Gefahr, in der sie steckte, hob Farbenfein ihren Kopf und teilte ihrer Peinigerin ruhig mit: „Ich nehme von Euch keine Befehle entgegen!“
„Ich werde dich lehren … !“, schnappte Monotonia nach Luft und eilte auf das Mädchen zu, wobei Farbenfein das Gefühl hatte, ihre donnernden Schritte würden sogar den Säulenboden von Sideth zum Erzittern bringen. Die Hexe baute sich Furcht einflößend vor dem Mädchen auf und betrachtete ihre Gefangene aus zusammengekniffenen Augen. Irgendetwas störte Monotonia maßlos, aber sie konnte nicht genau sagen, was es war. Dafür hätte es Farbenfein gekonnt, hütete sich jedoch, ihren sonnigen, kleinen Freund zu verraten. Monotonia spürte die Schwingungen von Sunnys geschmuggeltem Licht, konnte sich aber nicht erklären, wie sie in den Raum kamen.
„Kann es sein, dass hier ein Quäntchen Licht sein Unwesen treibt?“, zischte die Hexe und musterte das Mädchen argwöhnisch.
„Wohl kaum, bei Euren engen Beziehungen zur Sonne“, lächelte Farbenfein der Grauen Hexe liebenswürdig ins Gesicht, da sie genau wusste, dass sie dies am allerwenigsten ausstehen konnte.
„Wo ist es?“, fauchte die Hexe wütend und wage ja nicht, mich zu anzulügen, sonst …“ Sie schickte sich an, weitere Blitze auf Farbenfein regnen zu lassen, als plötzlich der Schwamm in der Türschwelle erschien.
„Was ist wo?“, erkundigte sich Kratzer.
„Das Licht!“, brüllte Monotonia so unerwartet, dass sich ihr Diener versehentlich auf den eigenen Fuß trat und das Gesicht schmerzhaft verzog.
„Ihr werdet nie eine Antwort bekommen, wenn sie ihren Farbenschild um sich zieht“, zeigte sich der Schwamm überzeugt, während Farbenfein bereits mit neuen Blitzen rechnete.
„Die Frage ist, woher sie die Kraft nimmt, diesen Schutzschild zu schaffen!“, krächzte die Hexe und drehte sich zu Kratzer um. „Ich hätte schwören können, dass ich eklige Sonnenstrahlen gespürt habe, als ich diesen Raum betrat. Widerliches Licht, das sich hier irgendwo zwischen engen Steinritzen versteckt und vermutlich nur auf eine Gelegenheit lauert, um dieser Ausgeburt an Farbe zur Hilfe zu eilen!“
„Unmöglich, Euer Grauenhaftigkeit!“, versuchte der Schwamm seine Herrin zu beschwichtigen. „Eure undurchdringlichen Nebenschwaden halten die Mauern hermetisch abgeriegelt und lassen kein Sonnenlicht durch.“
„Und dennoch …“
„Ganz ausgeschlossen“, schüttelte der Schwamm seinen Kopf.
„Was meinst du dazu?“, beugte sich die Hexe zu Farbenfein hinunter und packte ihr Handgelenk, worauf das Mädchen entsetzt zurückwich und sich gegen die kalte Wand presste.
Das Schweigen, das kurz darauf entstand, senkte sich unheilvoll über die Kammer.
„Ich habe dich etwas gefragt!“, knallten die Worte der Hexe wie Hiebe auf Farbenfein hinunter.
„Ihr habt doch selbst gehört, was der Schwamm gesagt hat“, bemühte sich die Hüterin der Farben um Haltung und versuchte die Hexe so wenig wie möglich zu reizen. „Es ist völlig unmöglich, dass durch diese Mauern Licht kommt.“
„Dann habe ich mich wohl geirrt?“, geiferte die Hexe und ließ die Hand des Mädchens wieder los.
„Scheint so“, erwiderte Farbenfein mit einem kleinen Lächeln auf ihren Lippen.
Einen Augenblick lang betrachtete die Hexe ihre Gefangene eingehend und wandte sich dann langsam um. Bevor sie jedoch das Turmzimmer verließ, meinte sie in Richtung Farbenfein: „Du kannst nicht gewinnen, weil ich dich im Auge behalten werde. Und lass dir eines gesagt sein: Nur die Dunkelheit ist echt, Täubchen, das Licht scheint nur so!“
Mit diesen Worten verließ Monotonia den Raum und die Tür fiel abermals krachend ins Schloss. Im Turmzimmer wurde es wieder stockfinster und das Mädchen hörte, wie die Graue Hexe von dem Schwamm noch ein paar Anweisungen gab, deren Wortlaut sie nicht mehr genau verstand.
Froh, wieder allein zu sein und erleichtert darüber, dass ihr kleines Geheimnis noch eines war, hörte Farbenfein still in die Finsternis hinein, während sie sich vorsichtig nach vor beugte.
„Alle Dunkelheit der Welt kann das Licht eines einzigen Sonnenstrahles nicht auslöschen“, flüsterte sie in die Schwärze hinein, und die Gewissheit, dass irgendwo draußen der Märchenmaler gemeinsam mit seinen Gefährten nach einem Weg suchte, sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, zauberte erneut ein kleines Lächeln auf ihre Lippen.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.