Alle weiblichen Nachkommen erhielten eine gute Grundausbildung und wurden dann, möglichst „gewinnbringend“ für die Familie, verheiratet. Song hatte allerdings bei Siu Li eine Ausnahme gemacht. Schon früh erkannte er ihre Intelligenz und ihren unbedingten Ehrgeiz, immer die Beste zu sein. Also entschied er sich in ihrem Fall für eine umfangreiche Ausbildung, sowohl geistiger, als auch körperlicher Art. Sie erhielt den gleichen Unterricht von Privatlehrern wie seine Söhne und darüber hinaus noch Unterweisungen von einem Wu Shu Meister. Als er davon erfuhr, war er ziemlich wütend. Aber heute musste sich Sim Lim eingestehen, dass es eine hervorragende Idee gewesen war und sich sein Sohn diesbezüglich Gott sei Dank gegen ihn durchgesetzt hatte. Leider war Song in letzter Zeit sehr kränklich und er selbst würde auch nicht ewig leben. Irgendwann musste er seinen Nachfolger bestimmen. Die Konkurrenz schlief nicht und er machte sich ernsthafte Sorgen um das Fortbestehen des Unternehmens. Wochenlang marterte er sein Hirn, was er tun könne, schlief kaum noch und aß wenig, bis ihm, wie der Blitz aus heiterem Himmel, die Lösung einfiel. Mit der Information aus dem Brief, den Chong Ng besorgen sollte, konnte er soviel Reichtum und Macht ansammeln, dass das Familienunternehmen die nächsten hundert Jahre, ohne Schaden zu nehmen, auch von Affen geleitet werden konnte. Sim Lim schob den Vorhang ein wenig zur Seite und riskierte einen Blick nach draußen. Sie waren schon in der Scotts Road, bald würden sie das Anwesen erreichen. Er rief einen der Diener zu sich und trug ihm auf, voraus zu eilen, um seine Lieblingskonkubine zu wecken. Wenn er jetzt zu Bett ging, würde er den Rest der Nacht eh wach liegen, also warum die Zeit nicht gleich etwas angenehmer verbringen. Zu Hause angekommen, begab er sich umgehend in seine Räumlichkeiten. Kurz darauf erschien, hastig angekleidet und kaum geschminkt, besagte Konkubine. Noch ganz schlaftrunken rieb sie sich die Augen. Diese Geste würde sie während der nächsten paar Stunden noch des Öfteren vollführen, allerdings aus ganz anderen Gründen. Sim Lim hatte seine alte Vitalität wiedergewonnen.
Siu Li verließ das Haus mit gemischten Gefühlen. Mit diesem Mann sollte sie also zusammenarbeiten. Offen gestanden war sie anfangs sogar ein wenig beeindruckt von seinem unerschrockenen Auftreten ihrem Großvater gegenüber. Das hatte sich allerdings geändert nach Chong Ng’s heftigem Ausbruch, als er erfuhr, er solle mit einer Frau als Partner arbeiten. Er war also keinen Deut besser, als all die anderen Männer, denen sie bisher begegnete. Und dann musste ausgerechnet ihr Cousin Wok, dieser nichtsnutzige Möchtegern, auch noch sein großes Maul aufreißen. Der sah sich, als erster Sohn des ersten Sohnes, schon auf dem Chefsessel. Seinen, derzeit noch höher gestellten Verwandten gegenüber verhielt er sich stets höflich und ehrerbietig, fast schon kriecherisch. Nur wenn er die Chance sah, auf einen schwächeren einzuhacken, nutzte er sie weidlich, um sich selber dabei zu profilieren. Hatte er sachlich nichts zu kritisieren, was eh meist der Fall war, wechselte er auf die persönliche Ebene, wie bei ihr mit der Heirat. Aber heute ging der Schuss nach hinten los. Sie konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, als ihr Großvater sie lobte und die anderen zusammenstauchte. Auch sie befand sich in einer Sänfte auf dem Weg zum Familienanwesen in der Scotts Road. Dort wohnte außerdem noch Chu, der Vater von Wok, mit ihren noch unverheirateten Cousins und Cousinen. Dazu kamen noch ein paar Nachzügler, Onkel und Tanten, die weit jünger waren als Siu Li, da ihr Großvater, trotz seines Alters, immer noch recht aktiv war. Gott sei Dank begegnete sie Wok nicht allzu oft. Zum einen war das Haus so groß, dass man sich locker aus dem Wege gehen konnte, und zum anderen war Wok mit der Aufsicht der Liegenschaften der Familie betraut, diverse Obstplantagen, sowie Gemüse- und Reisfarmen auf den umliegenden Inseln Singapurs, die er entsprechend oft aufsuchen musste. Außerdem hatte sich noch gehört, dass Wok auch für ein paar kleinere Unternehmen verantwortlich sei, die allerdings nichts mit dem Hauptgeschäftsfeld zu tun hatten. Genaueres hierüber wusste sie allerdings nicht. Doch selbst wenn er mal im Hause war, hatte sie das Gefühl, er würde es tunlichst meiden ihr zu begegnen und schon gar nicht alleine. Vielleicht hatte er Angst, sie würde ihn ordentlich verdreschen, denn er wusste um ihre Ausbildung in Wu Shu. Sicherlich nicht ganz unbegründet diese Angst, lächelte Siu Li in sich hinein. Sie war zwar in Singapur geboren, aber in Hong Kong aufgewachsen, nachdem ihrem Vater die große Verantwortung übertragen worden war, die dortige Niederlassung zu leiten. Seither hatte dieser ihren Großvater nie enttäuscht, die Geschäfte verliefen sehr erfolgreich. In letzter Zeit machte sie sich allerdings über Songs gesundheitlichen Zustand sorgen. Wenn es nach ihr ging, würde sie sofort wieder nach Hong Kong zurückkehren. Nicht nur, um sich um ihren kranken Vater zu kümmern, das Leben dort gefiel ihr auch deutlich besser. Es war schließlich ihre Heimat und dort gab zumindest so etwas Ähnliches wie Jahreszeiten. Hier in Singapur war es hingegen das ganze Jahr über annähernd gleich heiß und schwül. Dieses Klima machte ihr ein wenig zu schaffen. Siu Li war erst vor wenigen Monaten, auf Geheiß ihres Großvaters, nach Singapur gereist. Zu ihrer eigenen und wohl auch der Anderen, großen Überraschung, hatte sie Sim Lim in den Familienrat berufen. Die anfängliche Freude über diese ehren- und verantwortungsvolle Aufgabe, hatte sich jedoch bald gelegt, als sie erkennen musste, dass sie dort, außer dem Klanchef, niemand ernst nahm. Sie hatte auch mit ihm darüber gesprochen und erklärt, wie sinnlos das Ganze aus ihrer Sicht sei. Der bat sie jedoch noch um ein wenig mehr Geduld, da dies eine entscheidende Zeit für das gesamte Familienunternehmen wäre und er sie hier dringend brauchen würde. Das dies nun auf ein solchermaßen gestricktes Unterfangen hinauslaufen würde, hätte sie sich niemals träumen lassen. Als sie das Anwesen erreichten, begab sie sich sofort in ihre Gemächer und ließ sich auf das weiche Bett sinken. Ihre Amah Wei Wei schlurfte herbei und machte sich daran, sie zu entkleiden. Wei Wei war die einzige Person, die sie nach Singapur begleitet hatte. Seit Siu Li ein Baby war, hatte sie sich um sie gekümmert und sie würde diese Aufgabe noch bis zu ihrem Tode erfüllen. Amahs waren vor allem in den Familien der Adeligen und hohen Beamten ein vertrautes Bild, aber auch bei reichen Kaufmannsfamilien häufig anzutreffen. Für Siu Li war Wei Wei eine Ersatzmutter, ihre einzige Vertrauensperson hier in Singapur und ihre Spionin, was Familientratsch- und klatsch anbetraf. Für ihre Amah war Siu Li wie ihr eigenes Kind, das sie kurz nach der Geburt hatte hergeben müssen, ihr einziger Schatz auf Erden, den sie behütete und beschützte, notfalls auch und ohne zu zögern, mit ihrem eigenen Leben. „Haylah, was fällt deinem Großvater nur ein, dich so lange zum Aufbleiben zu zwingen! So eine gut aussehende Frau wie du braucht ihren Schönheitsschlaf“, murmelte Wei Wie entrüstet und schüttelte dabei ihren Kopf. Nachdem sie Siu Li komplett ausgezogen hatte, stülpte sie ihr ein seidenes Nachthemd über und tätschelte ihr zärtlich den Kopf: “nun schlaf schön, meine Kleine.“ Siu Li schlüpfte unter das Moskitonetz. “Gute Nacht Wei Wei.“ Sie dachte noch, „morgen gibt es viel zu erledigen“ und schlief kurz darauf ein.
In Chong Ng’s Kopf rasten die Gedanken, als er Sim Lim’s Shophouse verließ. Was für eine Nacht! Und dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen. Er konnte sich selber in den Hintern beißen, dass er nicht vorsichtiger gewesen war und auf seine innere Stimme gehört hatte. Aber es machte keinen Sinn, weiter zu lamentieren. Er war in die Falle getappt und musste nun mit den Konsequenzen leben. Überall standen Sim Lim’s Leute herum, als er das Haus durch die Vordertür verließ und draußen auf der Straße warteten schon die Sänften. Auf dem Weg nach Hause ließ er alle Szenen noch einmal Revue passieren. In Anbetracht der Situation, hatte er sich insgesamt wohl ganz gut geschlagen. Nur, wie sollte er mit seiner neuen, zwangsverordneten Partnerin umgehen und was sagte er Kee Hong, oder war es besser gar nichts zu erzählen? Nichts als Probleme und keine Antworten. Das Beste war es wohl, sich noch ein paar Stunden aufs Ohr zu legen. Nach dem Aufstehen und mit einem guten Frühstück im Magen, sah die Welt schon wieder anders aus. Zu Hause angekommen, begab er sich so leise wie möglich in seine Räume, zog sich aus und tauchte unter das Moskitonetz. Er legte sich kerzengerade hin, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die offenen Fragen. Bis zum Aufwachen sollte sein Gehirn an den Lösungen arbeiten. Kurz darauf war auch er eingeschlafen.
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