Die Position war für das Opfer natürlich extrem schmerzhaft. Es hing nun schon mehrere Stunden so. Damit die tragenden Haken nicht zu schnell ins Fleisch schnitten, waren sie zusätzlich gepolstert. Ein bisschen Luxus musste sein.
Als ich mich näherte, versuchte der Mann ein wenig zu zappeln. Wie lächerlich das doch aussah! Ich musste schmunzeln.
Kalter Angstschweiß stand auf seiner Stirn. Man konnte ihn sehen und riechen. Noch war der Gefangene bei klarem Verstand. Manchmal wurde die Beute jedoch wahnsinnig. Das war zwar ebenfalls lustig und gab dem Spiel einen anderen Reiz, aber so war es interessanter.
Der Mann wand sich wie Aal. Etwas unterhalb seiner Achselhöhle war die passende Stelle. Am besten schmeckte das Blut, wenn es frisch aus der Lunge kam und zum Herzen floss. Der Sauerstoff ließ es dann wie Champagner schäumen. Dieses Gebräu sollte es heute sein, denn ich war in guter Stimmung.
„Nicht zappeln, sonst stirbst du!“, ermahnte ich ihn.
Die Warnung ließ ihn angstvoll erstarren. Er ließ mein Handeln zu. Diese Operation war nicht ungefährlich.
„Gut so“, beruhigte ich. „Halt jetzt schön still!“
Meine erfahrene Hand schob die lange Kanüle langsam in die Arterie und den Katheder direkt bis in den Vorhof der Herzkammer. Angst und Entsetzen weiteten seine Augen und ließen seinen Schweiß regelrecht perlen. Die Arbeit gelang mir gut und sauber, kein Tropfen Blut drang heraus. Zur Sicherheit befestigte ich die herausragende Leitung mit Klebeband am Arm. Alles war dicht. Vorsichtig öffnete ich den Hahn und ließ den ersten, schäumenden Saft in das Glas rinnen.
Beruhigend klopfte meine Hand auf seinen nackten Körper.
„Das hast du fein gemacht!“, lobte ich ihn.
Das rosenrote Getränk prickelte und schmeckte erfrischend. Ja, das war das richtige Opfer. Ab morgen würde ich ihm dann zusätzlich Kochsalzlösung geben, sonst trocknete es zu schnell aus.
„Hab nur ein wenig Geduld!“, forderte ich zum Schluss unseres heutigen Tête-à-Tête. Ich meinte den Tod damit, wusste aus Erfahrung jedoch, dass diese Worte Hoffnungen beim Opfer weckten.
Zufrieden schloss ich die Tür hinter mir, ging in die Küche und wusch das geleerte Glas gründlich aus. In die Spülmaschine wollte ich es nicht stellen. Das Geschirr dort war sauber. Die Maschine hatte gerade ihre Arbeit beendet. Hier sah es wie immer sehr ordentlich aus. Ich liebte in diesem Bereich Ordnung und perfekte Sauberkeit.
Meine Hände und Füße erwärmten sich durch das frische Blut langsam. Der Blick in den Spiegel zeigte mir jedoch immer noch ein bleiches Gesicht. Es dauerte etwas, bis die Wirkung sich auch dort zeigte.
Ich spürte endlich wieder das Holz der Dielen unter meinen nackten, besser durchbluteten Sohlen. Waren diese kalt, so schwand die Empfindung. Ihre gehobelte Ursprünglichkeit erinnerte mich an die alten, angenehmen Zeiten. Bei der Anmietung der Wohnung hatte ich darauf bestanden, den Boden auszuwechseln. Der Vermieter versuchte mir zwar einzureden, dass das Holzimitat viel besser und robuster wäre, doch ich bestand darauf.
Das war wie mit einer lebendigen Frau. Welcher Mann will schon eine künstliche Puppe als Ersatz?
Natürlich musste ich die Änderung selbst bezahlen. In allen Räumen wurden durchgehende Eichendielen verlegt. Dem Vermieter gefiel es am Ende auch. Er versprach sogar, mir den Boden fair abzukaufen, falls ich einmal auszog.
Dieses lebendige Gefühl war mir diese Investition wert. Das gemaserte Holz unter den bloßen Füßen genießend, schlenderte ich in das Wohnzimmer. Genauso war es in Zarskoje Selo gewesen, als wir Kinder vor dem Schlafengehen noch barfuß hin und her huschten. Unsere Kindermädchen ärgerte das, aber wir mochten dieses Spiel. Wir hatten keine richtigen Gouvernanten, weil Mama und Papa Wert darauf legten, dass sie uns selbst erzogen und wir wie eine normale Familie lebten. Das war ungewöhnlich in Königshäusern der damaligen Zeit. Vielleicht war es falsch gewesen, denn daraus resultierte nun ein Teil des Schmerzes, den ich empfand. Da wir alle durch unsere Liebe verbunden waren, wog der Verlust meiner Familie jetzt umso schwerer.
Manchmal drohten wir Kinder den aufgeregten Bediensteten damit, sie zu entlassen, wenn sie uns nicht gehorchten. Sie taten dann zwar mutig, doch wir spürten ihre Furcht. Gut bezahlte Arbeit war schon immer schwer zu finden gewesen. Wer wollte sie verlieren?
Die Welt war zu dieser Zeit noch zauberhaft für uns Kinder. Nichts deutete darauf hin, dass nur wenige Jahre später alles anders sein würde.
Auf dem Tisch stand mein geöffneter Laptop. Eigentlich mochte ich diese neumodischen Geräte nicht, da sie Veränderung symbolisierten, doch die Zeit forderte ihren Tribut. Für die Jagd, das Finden und sogar für das Verstecken von Informationen war die heutige Technik sehr praktisch. Überall auf der Welt konnte man dadurch im Internet die vielen Lügen und Fantastereien über meine Familie und unseren Tod lesen.
Viele Jahrzehnte war mir das wirklich egal gewesen, da mich die Jagd ausfüllte. Aber jetzt reichte mir das nicht mehr. Wurde ich älter? War das eine eigenwillige Form von Nostalgie?
Ließ ich meine Gefühle zu, verspürte ich Lust, die wahre Geschichte aufzuschreiben. Regelte ich sie herunter, verließ mich diese und wich dem Drang, zum Panikraum zu gehen und die böse Arbeit fortzuführen. Das funktionierte wie bei einem Dimmer. Die vielen Jahre hatten mich gelehrt, mit diesem umzugehen.
Ich gestattete mir wieder ein wenig mehr Gefühle und genoss dieses masochistische Spiel des Wahrnehmen von Trauer und Schmerz. Dann drehte ich an dieser inneren Schraube und genoss die Empfindungen der anderen Seite; den kühlen Frieden, verbunden mit herzloser Bosheit. Jedes Mal staunte ich erneut, wie rasant sich dabei auch mein Denken änderte. Es war mit dem Empfinden und Fühlen gekoppelt.
War somit nicht alles Denken und Handeln nur illusionär? Wie können Illusionen eine Schuld tragen und war die Wahrnehmung einer Schuld nichts als eine weitere Illusion? Wie konnte ein Mörder schuldig sein, wenn alle Handlungen auf Ursachen beruhten? Stand somit nicht bereits vor der Tat alles fest? Das frische Blut berauschte. Meine Gedanken schwirrten. Schluss damit!
Ich öffnete den Deckel meines Notebooks. Durch einen kurzen Klick erschien der gespeicherte Artikel im Bildschirm. Ich hatte ihn schon oft gelesen. Er beschrieb, dass meine Familie nach Jahrzehnten der Verunglimpfung von der orthodoxen Kirche heilig gesprochen worden war. Eine DNA-Analyse bewies zudem nun angeblich den Tod meiner Schwester Maria und des Zarewitsch. Viele Jahrzehnte hielten sich Gerüchte, dass die Bolschewiken sie angeblich verschont hätten. Die Überreste der beiden waren erst kürzlich abseits von den anderen Familienmitgliedern in einem anderen Grab entdeckt worden.
Es hatte natürlich viel zu lange gedauert, bis diese Morde endlich als ein Verbrechen bewertet wurden. Verharmlosend hatte man die Untat über Jahrzehnte, selbst jene an uns Kindern, als eine Folge des Krieges und der Armut in Russland bagatellisiert. Noch immer traf man zuweilen leider auf so herzlos argumentierende Menschen. Sie standen unter dem Einfluss einer verachtenswerten Ideologie und hatten in meinen Augen selbst den Tod verdient. Ja, sie sollten fühlen, wie sich dieser anfühlte.
Die Schlüsse, die man heute aus den neuen Funden zog, waren zum großen Teil jedoch falsch. Auch meine Leiche hatten Wissenschaftler angeblich identifiziert. Die DNA-Analysen ergaben scheinbar das, was man bewiesen haben wollte. Aber hallo, ich saß jedoch hier und war doch dabei gewesen. Wer konnte alles besser wissen?
Sollte ich für die Welt die ganze Wahrheit aufschreiben? Diente das aber nicht nur meiner verbliebenen Eitelkeit und spiegelte dieser Wunsch den Rest meiner Menschlichkeit wider? Interessierte all das überhaupt noch jemanden außer mir? Gerechtigkeit würde es ohnehin niemals geben. Auch sie war nur eine Illusion.
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