Der Schmerz lähmte ihn. Wirre, abgehackte Splitter irrten durch den Kopf, die er nicht fassen konnte, die aber mit strahlender Kraft den Wahnsinn sofort in die Flucht schlugen. In wilder Hast blitzten sie auf, waren verschwunden, um in jedem der flüchtigen Augenblicke die Form zu wechseln, wurden zum Neuen, das ihn mit Wucht zurück in das grenzenlose Dunkel schleuderte, in dem er weder Körper noch Geist erkannte. Nichts war zu spüren, bis es ihm im starken Augenblick gelang, trotz ihres bleiernen Sträubens, die Lider halb zu öffnen. Das schwache Licht bahnte sich den Weg, gab die Konturen und kräftigsten Farben frei. Was Granna im Halbdunklen sah, die hölzerne, an Händen und Füßen gefesselte Gestalt, in der Uniform des alten Soldaten Josef, willenlos hingestreckt auf der steinernen Pritsche im königlichem Verließ, wollte er nicht wahrhaben, bis ihm bewusst wurde, die irrationale Realität auf dieser Bühne war Wirklichkeit, und er immer weiterspielen musste, um sich aus ihr zu lösen. Doch die Verzweiflung, weil es auf die Frage, warum er auf der Bühne in Josefs Gedanken steckte, keine Antwort gab, drückte ihn schwer.
Mit lautem Knall schlug die Zellentür an die Wand. Der Kämmerer und Oberster Richter des Reiches schritt, gefolgt von zwei der Spezialwachen, über die Schwelle in Grannas und Josefs Kerkerzelle. „Was hast du dir dabei gedacht, Wrack von einem Soldaten, auf die schäbigste Weise aus dem Spiel zu verschwinden? Den Schädel an die Wand trümmern, auch noch mehrfach, kann ich nicht dulden. Selbstmord bleibt Mord und steht unter Strafe. Außerdem haben die da oben, der König und ich zu bestimmen, wer geht und wer nicht. An dir, du schamloser alter Verbrecher, da sei sicher, ist es gewiss nicht!“ Mehr würde der Kämmerer nicht sagen. Für ihn der Fall Marius gegen Josef erledigt, die Strafe schon vor dem Prozess so gut wie verkündet. Dass er in diesem Fall zuständiger Ankläger und Richter, Josef, Soldat, Held und Dieb bis zum Tod im finstersten Kerker des Königs vermodern würde und als Rivale aus der Schusslinie war, machte die Sache umso leichter.
Ich bin doch ein feiner Herr, sagte sich der Kämmerer und war zufrieden. Recht und Gesetz ist ein zu hohes Gut, das nicht in die Hände des aufmüpfigen Pöbels, sondern nur in die des gottgewollten Adels gehört. Doch die beste, eleganteste Lösung fand der König, als er es in meine alleinigen, tatkräftigen Hände legte. Das hämische Grinsen bestürzte Willem Granna. Der Kämmerer war die lebende Gefahr, die ihn vernichten, als ewigen Verlierer, als Sündenbock im immer neuen Spiel halten, und jedes falsche, unbedachte Wort seinen Untergang bedeuten würde. „Herr Kämmerer“, hörte er sich flehen. „Versteht mich doch. Ich sah keinen anderen Ausweg, als mich selbst zu richten. Nur der schnelle Tod, dachte ich, brächte Erlösung. Verzeiht mein törichtes Verhalten. Ich war nicht bei Sinnen, Euer Hochwohlgeboren.“
„Bei Sinnen hin oder her. Der Weg stand dir nicht zu, auch weil du eigentlich hier bei uns nichts zu suchen hast. Bisher war es immer der Bauernbursche Marius, der die Prinzessin in jedem neuen Spiel erlöste, mit grenzenloser Einfalt über dem halben Königreich stand und mir nicht in die Quere kam. Dein unerwartetes Erscheinen hat alles durcheinander gebracht und meine unbegrenzte Macht im Reich gefährdet. Die maßlose Trauer des alten Königs ließ mir bisher freie Hand über das Herrschen und die Finanzen. Daran änderte sich auch nichts, wenn Marius die Prinzessin in jedem neuen Spiel aus der Hand der Fee befreite, in Liebe zu ihr entbrannte und sich einbildete, über das halbe Reich zu herrschen. Auch dann ließ der König mich alleine machen, war vollauf zufrieden, sich zu freuen, dass die Macht in meinen Händen blieb. Erst als die da oben dich ins Spiel brachten, kam es zu Veränderungen, denen ich mich aber mit aller Kraft entgegenstelle, und auch du, Soldat, wirst daran nichts ändern. Was haben sie sich nur gedacht, dich ins Spiel zu bringen? War ihnen langweilig, dass sie alles durcheinanderwirbeln mussten und jetzt selbst nicht mehr wissen, wohin das noch führen soll. Glaub mir, Soldat, auch wenn der König beschlossen hat, über dich Gericht zu halten, das Verließ bleibt dein Schicksal, dein Weg, was du auch anstellst, führt dich immer hierher zurück.“
„Herr Kämmerer“, jammerte Granna, nichts mehr war an ihm vom großen Helden und tapferen Retter zu erkennen. „Herr Kämmerer, was habe ich Euch nur getan, dass Ihr mir so zürnt?“
„Bisher nichts, alter Mann“, lachte er. „Doch ließe ich dich als halber König gewähren, würdest du keine Ruhe geben, dich nicht fügen, in alles einmischen und mir zur Gefahr werden. Das aber, wie du sicher verstehst, Soldat, kann ich nicht dulden, und so kam mir die Klage des Marius´ nur allzu recht.“
„Aber Herr Kämmerer“, flehte Granna. „Ich wollte den Sattel gar nicht rauben, nur ausborgen, bis ich die Prinzessin erlöst hätte, ihn danach dem Marius zurückgeben. Glaubt mir doch!“, wimmerte er. „Wenn Ihr mich freilasst, verspreche ich Euch bei meiner Soldatenehre, gehe ich meiner Wege, und Ihr seht mich nie wieder. Habt ein Herz mit mir alten, in Ehren entlassenen Soldaten, der selbst nicht wusste, wie ihm geschah.“
„Du alter vertrottelter Narr!“, dröhnte Josef in Grannas Gedanken. „Du hättest auf mich hören, als noch Zeit war, und dich mit dem Sattel und dem Tischtuch aus dem Staube machen sollen. Niemals wird der Kämmerer dich ziehen lassen, sondern dir, neben dem Raub des Sattels, nur noch mehr anhängen. Er hat bei meiner ehemaligen Kompanie Erkundigungen eingezogen. Sei gewiss, ich habe genug Schuld auf meine Schultern geladen, die ausreicht, im dunklen, stinkigen Loch zu vermodern. Ich hätte dich nie machen lassen dürfen, doch jetzt kommt jede Reue zu spät. Nur ein Wunder kann uns noch retten.“
Es wurde dunkel. Die Stille umhüllte ihn. Wieder explodierte das hohe, rhythmische Piepen im Kopf. Er war nicht mehr allein.
„Wir haben alles versucht“, es war die kalte Stimme des einen Mannes. „Er will einfach nicht. Ich bin mit meinem Latein am Ende.“ Das Spitze stach in die linke Armbeuge und ließ es brennend kalt durch den Körper fließen. Alles in ihm bäumte sich auf, es war vergeblich, er versank in der Dunkelheit. Die andere, besänftigende Stille in ihr vertrieb die Angst in weite unbekannte Ferne, bis die Stimme des anderen Mannes ihn in die Wirklichkeit riss. „Hallo, hallo, können Sie mich hören?“, drang sie in ihn. „Sagen Sie mir endlich Ihren Namen!“, unerbittlich setzte sie ihm zu. Jetzt wollen sie wissen, wann ich geboren bin, wo ich wohne. Als ob sie das nicht wüssten. Immer schärfer wurden die Fragen. Der eine Mann mischte sich ein. Gemeinsam ließen sie nicht ab, ihn zu quälen. Keine Pause wurde gewährt. Er konnte nicht länger widerstehen, wollte antworten, doch im letzten Augenblick wurde ihm klar, dass das der Anfang vom Ende wäre. Nein, nein, ich rede nicht! schrie er stumm. Jedes Wort drehen sie mir im Munde um, verwenden es gegen mich. Ich falle nicht noch einmal auf sie rein. Ich kenne das Spiel! wehrte er sich mit letzter Kraft. Die Zunge glitt über die trockenen, rissigen Lippen. Der Durst hatte ihn in seiner Gewalt. Granna kannte ihn noch von damals. Auch jetzt traf alles andere zusammen, Isolation, Dunkelheit, die lähmende, ohnmächtige Verlassenheit. Selbst im Guten und Bösen sollte er sich wieder verlieren. Damals, in der schlechten Zeit, war es ihm gelungen, sich zu widersetzen. Doch der Durst wurde stärker, trotzdem ergab er sich nicht, schwieg auf alle Fragen.
Die Schritte der beiden Männer entfernten sich. Das rhythmische Piepen marterte sein hitziges Hirn. Niemals würde er sich beugen, das wäre das Ende, sie hätten gesiegt.Er musste die Gedanken über die Erinnerungen arbeiten lassen. Nur so wäre den Männern zu trotzen.
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