Rachel erzählte Geo den Traum der vergangenen Nacht, ganz entgegen ihrer Gewohnheit, emotionale Regungen einem ihrer Mitarbeiter auszubreiten.
»Wir sitzen im Meeting. Wie immer. Alle schauen auf mich und ich kann nicht sprechen. Es ist sehr schlimm. Mein Mund geht auf und zu, es kommt nichts raus. Nach einer Zeit des Schweigens schaue ich an mir herunter: Ich trage einen Anzug. Und es ist einfach so: Ich bin ein Mann. Abends liege ich zuhause im Bett und neben mir liegt noch ein Mann. Ich bin schwul! Verstehst du, Geo, ich bin schwul!«
Geo verstand: »Okay, ich vertrete dich heute. Wir erfinden eine Frauenausrede.«
Rachel war noch nicht fertig: »Das schlimmste ist: Ich kann mich an jede Einzelheit dieses furchtbaren Traumes erinnern, verstehst du? Jede Einzelheit! Und das ist mir in den letzten Jahren nicht mehr gelungen. Ich habe geglaubt, dass ich überhaupt nicht mehr träume. Verstehst du, Geo?«
Geo verstand weiterhin klar und deutlich: Die unbewussten Träume von Madame waren – ich bin ein Mann und schwul. »Am besten, du nimmst deinen Hinterausgang plus Lastenaufzug direkt runter zum Auto und erholst dich heute einfach mal, okay?«
Rachel nickte zuerst nur, sie konnte mit Erholung auch heute nichts anfangen. »Und wenn du Lasse Torbo in die Finger kriegst, zerquetsch' ihn. Ihm zuliebe habe ich an einem Donnerstagabend Champagner getrunken. Das hat wohl meinen Säure-Basen-Haushalt extrem durcheinander gebracht.«
»So, so« dachte Geo, »war das nun ein Versöhnungs- oder Abschiedschampagner gewesen?« Seine Erfahrung verbot ihm, laut danach zu fragen. Stattdessen antwortete er nur: »Jawohl, Boss, zerquetschen.« Er drückte den Daumen auf ihre Schreibtischplatte, bewegte ihn von Position Ein Uhr auf Vier Uhr und wieder zurück, stand auf, salutierte und verließ ihr Büro.
Der Snack im Vorraum war inzwischen notdürftig hergerichtet, die Vertreter der Unternehmen eingetroffen und ins Gespräch vertieft. Geo ging mit schnellen Schritten nach vorn, die Assistenten standen schon bereit.
»Meine Herren, Frau Rutenberg fühlt sich heute nicht wohl. Sie wissen schon. Aber Sie kennen mich ja: die De|Sign-Qualität ist bei allen Mitarbeiter gleich.«
Nicken bei den Beteiligten.
»Stellen Sie sich also folgendes vor ...«
Der 200-Zoll-LED-Schirm beflimmerte die Gesichter. Die Vorstellung des neuen Produkt-Designs, Tag- und Nachtwerk von einunddreißig Mitarbeitern in der abgelaufenen Woche, begann.
Der Ablauf dieses Pitchs, obwohl auf der ganzen Linie ein Erfolg, ließ nichts Gutes für den zweiten Pitch am späteren Nachmittag erwarten. Denn, das wusste Geo aus leidlicher Erfahrung, Kunden aus dem Düngemittelsektor hatten ein Hundertstel Humor wie die Shampoo-Vorstandsleute von eben.
In den Wörterbüchern der Führungskräfte, die Rachel für 16 Uhr bestellt hatte, kamen die Wörter »Ironie« oder »Sarkasmus« nicht vor, denn diese Entscheider waren in der Politik verflochten. Und die Politik kannte nur das brutal ernst gemeinte Wort und das war PR-porentief rein geschleudert und für sauber befunden.
Er entschloss sich, diesen Termin abzusagen und formulierte im Geiste schon einmal die Inschrift auf seinem Grabstein: »Hier ruht Geo Gadaa, erschlagen durch den Zorn Rachel Rutenbergs, geläutert durch den heiligen Designgott der Uncancelbarkeit von Kundenterminen.«
Tief im Unbewussten von Geo lagerte sich nach dieser Entscheidung die Erkenntnis an: Es sollten weitere Grabstein-Inschriften folgen, die einen Steinmetz rein von der Länge her überfordern und den Designgott vor unlösbare Aufgaben stellen würden.
John
Chiara bekam den ersten Kopierkoller ihres Lebens. Sie konnte einfach keine Vorlagen mehr in diesen Automaten stecken und stapelweise Papierberge heraus zaubern – geheftet und sortiert. Schon längst las sie nicht mehr, was auf den Blättern stand, sie hatte das Interesse an den »schönen Dingen des Lebens« verloren. Das war also ihr Traumarbeitsplatz, den sie sich in der Schule immer wieder vorgestellt hatte. Sie wollte die Welt verändern, Botschaften für sinnvolle Produkte entwerfen, die der Menschheit dienen. Nur hatte diese Menschheit unzählige Farbkopien vor diese Traumerfüllung gehäuft. In der Zeitung hätte gestanden: »Übereinander gelegt, würden diese Papiere einmal um den Mars reichen.«
Einfach durch diese Stapel zu stampfen und ihren Weg zu gehen, konnte sie nicht mehr. Durchschwimmen war auch unmöglich, sie hatte kein Seepferdchen im Papierschwimmen. »Ich ersticke in Papier« dachte sie und hatte damit den Gedanken des Jahres im Studio-Score - ihre Bosse hatte genau dasselbe schon Millionen Mal gedacht.
Nach der Suppe am Mittag wurde es nicht besser. Sie zwang sich zum Essen, sie zwang sich zum Reden mit den Kollegen, sie zwang sich, wach zu bleiben und in das Elend der Arbeitswelt zu blicken. Dann ging sie einfach nach Hause. Um 15 Uhr! In den letzten drei Monaten hatte sie niemals um diese Zeit Feierabend gemacht. Auch jetzt war ihr zum Feiern nicht zumute.
Natürlich darf eine Drehbuchautor das Ein-Zimmer-Appartement der aufstrebenden Praktikantin ausführlich beschrieben, wohnen sollte man aber besser nicht darin. Als Chiara leider genau in diesem Appartement ankam, versank sie an ihrem Schreibtisch ins Mitleid, unterstützt durch ihr abendliches Heulritual, das sie diesmal praktischerweise auf den Nachmittag verlegte
»Nichts, nichts mehr zu machen«, dachte sie, »und nach Hause gehe ich schon mal gar nicht zurück.« Denn dort müsste sie Bericht erstatten, ihre Niederlage eingestehen und sich neue Leistungsideen für Zukunftsberufe von ihren Eltern anhören.
»No, Chiara, bleib' mit dem Kopf über dem Papier-Wasser, tritt gegen die Flut, bis aus der Suppe festes Pappmachée geworden ist und du oben auf dem Berg die Siegesfahne der befreiten Praktikantin hissen kannst.« So motivierte sie sich, es blieb ihr auch nicht anderes übrig. Zu Essen gab es bei ihr nichts, die ersehnten Liebhaber außer Reichweite und das Bett eben wie jeden Abend ein kalter Schlafplatz. Die letzten Arbeitsgesichter huschten noch in ihrem Geiste vorbei, dann reiste Chiara ins Reich der Träume.
»Eine schöne Straße ist das hier. Unser Viertel ist herrlich. Ich fühle mich hart und weich zugleich. Meine Härte als Mann, meine Weichheit in Gedanken. Wie schön: ich atme, ich bin frei. Die Autos strömen vor dem Dakota Building um mich herum, als ich aus dem Wagen aussteige. Das hier ist meine Traumstadt in meinem Traumleben. Aha, der Mann will was von mir. Ein Revolver, warum hat er einen Revolver? Ich spüre sanfte Stiche in meiner Lunge, an meinem Hals und in der Schulter. Es ist wunderbar, ich kann – wie lustig - das Revolver-Album sehen, meine Frau, mein Kind, alles vermischt sich und eine schöne Musik erklingt. I’m shot, I’m shot! Welch' Panik und welch' Wunder ist geschehen.«
Schweiß nass wachte Chiara auf ihrem Sofa auf, schaute in der festen Gewissheit auf ihren Bauch, dort ein Loch mit den bekannten CSI-Schmauchspuren besichtigen zu können. Nur: Da war nichts, obwohl sie fest daran glaubte, jetzt tot zu sein. So tot wie er vor seinem Wohnhaus in Manhattan, ermordet von Marc David Chapman, wie sich später herausstellen sollte.
Für Chiara wurde es eine aufregende Nacht.
»Was für ein schöner Tag. Was für ein schönes Auto. Jackie sieht so schön aus. Ich bin müde, ich habe ein komisches Gefühl. Nellie dreht sich zu mir um 'Mr. President, man kann nicht sagen, dass Dallas Sie nicht liebt'. Ich sage ihr 'Nein, das kann man ganz sicher nicht sagen“. Mein Kopf schmerzt auf einmal so.«
»Es ist so wunderbar, über mein gelobtes Land zu sprechen. Und von diesem Balkon auf all die Menschen zu schauen. Es ist wirklich so: Ich fürchte nichts und niemanden mehr, ich habe ein langes und erfülltes Leben. Warum brennt es so in meinem Bauch und warum kommt Jesse mit diesem furchtbaren Gesicht auf mich zugelaufen?«
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