Jetzt stand er hier in seiner beschissenen Pförtnerloge, denn nichts anderes war das hier. Und sein Zorn richtete sich gegen die Kaste der Manager, die ihm das »bessere Leben« versprochen und dieses Versprechen nie eingelöst hatten.
Nummer 14, auf seiner Strichliste fanden sich unter »M.« bereits 11 Striche, hatte mit dieser geballten Aggression von Marcello nicht gerechnet. In der gewohnt arroganten Art hatte dieser »Top-Executive« eines Stromanbieters seine Visitenkarte hingepfeffert und seinen Ansprechpartner genannt. Ohne dabei Marcello auch nur eine Sekunde anzuschauen.
Und diese Ignoranz, die Marcello in Demutshaltung über vierzig Jahre ertragen hatte, genau dieser klitzekleine Tropfen Ignoranz ließ das Wutfass überlaufen und ergoss einen Schwall konzentrierten Hasses über Nummer 14. Der hatte den Griff an sein Jackett nicht kommen sehen und schaute nur überrascht, wie die bestickten Ösenknöpfe absprangen und über den Marmorfußboden in alle Richtungen davon rollten. Marcello hatte ihn mit einer Hand zu sich nach oben, sozusagen auf Augenhöhe, geholt, stierte ihn mit todbringenden Augen an. Nummer 14 verlor sogleich das Bewusstsein, erschlaffte ihn seinem Outfit, welches ironischerweise aus dieser Sommerkollektion stammte und Eva einen wertvollen Strich beschert hätte. Der Empfangschef ließ ihn sanft zu Boden gleiten, dreht sich um und sprach:»Es, … es tut mir leid. Kümmere dich um ihn.«
Eva traute zuerst ihren Augen und nun ihren Ohren nicht. Marcello, dieser Riese, hatte einen Kunden so knallhart angefasst, dass dieser nur durch Ohnmacht entkommen konnte. »Alles okay, Marcello, ich kümmere mich drum, klar.«
Und Marcello stürmte zur Garderobe, nahm seinen leichten Trenchcoat vom Haken und entschwand durch die mittlere Drehtür nach draußen. Aus den Augenwinkeln konnte er Geo Gadaa, den Productdesign-Director auf der anderen Seite der Tür gerade nach innen kommen sehen – wie immer zu spät. Marcellos Mitarbeiterausweis war kurz vorher noch über den Tresen seiner Kollegin Eva gesegelt, die nichts anderes tun konnte, um dieses, formal eher außergewöhnliche, Kündigungsschreiben zu akzeptieren und mit dem Eingangsstempel zu versehen.
Hätte die Levant-Corp. die Wirkung ihres Topproduktes Equinox auf dieser Art live miterleben können, sie hätten Kopf und Kragen riskiert, jedes einzelne Gramm zurückzuholen und in den tiefsten Stollen der Erde auf Nimmerwiedersehen endzulagern. Ungezügelte Aggressionen als Nebenwirkungen wären in der Zielgruppe das Todesurteil, denn nichts fürchteten Designer in der Szene mehr als die authentische Reaktion auf die eigene, hoffnungslose Lage.
Leider sollte die Levant Corp. noch mindestens achtzehn weitere Referenzwirkungen von Equinox kennen lernen und jeder einzelne auf der Führungsebene würde die Verantwortung für diese Wirkung auf Dr. h. c. Weinstein umleiten und sich »schadlos halten.«
Fröhlichstes Pitchen
Geo hatte verwundert das schmerzverzerrte Gesicht des Pförtners Marcello di Costas zur Kenntnis genommen – Gesicht und Person ergaben zuerst kein Matching, wie man es aus James-Bond-Filmen mit Blinken und Piepen auf dem Bildschirm kannte.
»Das kann unmöglich der friedliche Marcello sein« dachte sich Geo. Bis er in das Gesicht von der Pförtnerin Eva schaute, die ihrerseits verwundert zurückblickte.
»Sagen Sie, Frau Schäfer, war das nicht gerade Marcello, der da so durch die Türe stürmte.«
»Ja, Herr Gadaa , das WAR tatsächlich Marcello« antworte die Empfangsdame gewohnt trocken. »Herr di Costas hat sich entschieden, heute seine Altersteilzeit anzutreten.«
Geo traute dieser Empfangsdame kein Fünkchen Ironie zu und verstand deshalb die Erklärung des Marcello-Abgangs nicht bis überhaupt nicht.
Intuitiv nahm er nicht den Expresslift, um ja keinem seiner Kunden zu begegnen – das brachte vor Pitches immer Unglück. Nichts schlimmer als Smalltalk, bei dem die Klienten Witze über die kommende Präsentation und die Qualität seiner Arbeit machten. Studiokunden durften den Protagonisten der nachmittäglichen Vorführung erst in der eigentlichen Sitzung zu Gesicht bekommen. Geo liebte diese Auftritte, im Geiste hörte er sich dazu römische Fanfarenstöße an: Geo Gadaa schreitet als Gladiator ins Colloseum, verbeugt sich vor dem Kaiser und lässt die Spiele beginnen.
Als er in der Geschäftsführungsetage ankam, sagte ihm sein Instinkt, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Der sonst so professionellen Freundlichkeit von Rachels Assistentinnen waren Gesichter der Orientierungslosigkeit à la Marcello-und-Eva-Empfang gewichen. Im Vorraum stand KEIN Nachmittagssnack! Und dort standen auch nicht die üblichen Vorstandsverdächtigen. Ganz klar: Geo hatte sich im Termin vertan. Was ja auch kein Wunder war, da die Präsentationen erst vor drei Tagen genau für Freitag anberaumt waren.
»Julie, was ist denn hier los? Wo sind unsere Freunde vom Vorstand?« fragte er die nächstgelegene Assistentin.
»Geo, gut, dass Sie da sind.«. Alle im Studio sprachen sich in freundlich-feindlicher Verbundenheit mit Vornamen und Sie an. »Hier ist das Chaos ausgebrochen.«
Julie war deutlich anzumerken, dass sie mit dem Wort Chaos erhebliche Schwierigkeiten sowohl in der Aussprache also auch mit der Existenz im vierundzwanzigsten Stockwerk hatte.
»Hätten Sie die Güte, das Chaos näher zu erläutern?« fragte Geo nach.
»Rachel ist eben hier erschienen, eine Stunde zu früh, notdürftig geschminkt und eher Wochenendlich gekleidet, wenn man davon überhaupt sprechen konnte.«
Keine Schminke, kein Businesskostüm. Und das, bevor zwei Pitches mit den momentan aussichtsreichsten Kandidaten über die Bühne gehen sollten? Rachel musste furchtbares durchgemacht haben und furchtbar hieß hier: Plötzlicher Tod von mindestens zwei näheren Angehörigen, Einbruch oder Brand im Penthouse oder alles gleichzeitig.«
»Also der Reihe nach Julie: Was ist genau passiert?«
»Zuerst einmal kam Rachel aus dem falschen Aufzug, die Pforte hatte mich nicht vorgewarnt. Wo ist verdammt noch mal überhaupt dieser Marcello? Dann stürzt sie an mir vorbei in ihr Büro. Wie immer zwar ohne Gruß, aber das erste Mal auch ohne den klitzekleinsten Anschiss.«
Hier kam Geo schon im Grübeln, »Anschiss« gehörte vielleicht in Julies Vokabular mit ihrer Kollegin aber doch nicht in die Konversation mit Productdesign-Directors wie ihn.
»Na ja, jeder hat mal einen schlechten Tag, auch Rachel.«
»Aber genau das ist doch das furchtbare: In meinen vier Jahren der Assistenz hatte Rachel nur schlechte Tage gehabt und mir das unmissverständlich mitgeteilt. Nur heute eben kein Wort. Das ist so schlimm« sagte Julie und eine Träne zeigt sich unter dem linken Auge – bereit, die 50-Euro-Wimperntusche aufzunehmen und in der geschminkten Wange eine dunkle und hässliche Straße zu asphaltieren.
»Okay, keine Panik. Julie, ich gehe rein« tröstete Geo und hielt über den vier Zentimeter dicken Teppich auf die Doppeltüre zu.«
»Das kann ich Ihnen nicht raten« waren die letzten Worte, die noch an sein Ohr drangen, eher er ins Allerheiligste trat. Ganz hinten, klein wie eine Stecknadel, konnte er in diesem Megabüro Rachel Rutenberg am Schreibtisch entdecken. Vor ihr standen: ein Obstkorb, ein Telefon und ein Glas - randvoll mit Whisky ohne Eis. Geo hielt inne, machte das imaginäre Erinnerungsfoto für die Studiobiografie, sucht einen Stuhl, fand keinen und stellte sich deshalb an die Ecke des Schreibtisches. »Hallo Rachel, wie geht es dir denn heute?«
»No time for Smalltalk, Geo. Auch ein Gläschen?« fragte Rachel und deutet auf den Vierfachen in ihrem Glas.
»Nein danke, du weißt, die Fahne macht sich in den Präsentationen nicht so gut.«
»Vergiss die Präsentationen, Geo, es geht um Leben und Tod. Und bei mir wohl eher um Tod.«
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