Natürlich hatte sie gleich am Anfang mit ihm geschlafen, damit er sich in Sicherheit wiegte. Im Bett gab er bereitwillig Auskunft, wer im Studio schlecht über sie redete und wer hoffnungslos demütig war. Doch als Informationsquelle hatte Lasse schnell seinen Reiz verloren, er sollte heute der Prototyp ihres ausgefeilten Bossings werden – die Mobbingvariante, bei der der Chef der Böse ist.
»Herr Torbo, kommen Sie doch mal in mein Büro« sagte Rachel möglichst beiläufig und laut genug, dass alle im Großraumbüro es hören konnten.
Als Lasse die Tür, genauso hörbar für alle, hinter sich zuschlug, musste er sich sichtlich zusammennehmen: »Hey, Rachel, was soll die Siezerei und vor allem: dieser Befehlston?«
»Zu den Statuten eines Designstudios gehört nun mal der Umgangston« erwiderte Rachel, wohl wissend, dass sich alle im Studio duzen. Außer den Praktikanten, die waren in Augen der Festangestellten sowieso nur Inhuman-Kapital.
»Genug der Flötens, was kann ich für die werte Studioinhaberin tun?«
»Zuerst einmal solltest du deinen Textmist von gestern überarbeiten, damit wir unserem Kunden ausnahmsweise mal Qualität liefern.«
»Schön, dass wir wieder beim 'Du' sind. Ich kann mich leider nicht erinnern, jemals so etwas wie 'Mist' abgeliefert zu haben.«
»Lasse, nur weil wir miteinander schlafen, heißt das nicht, dass ich nachsichtig mit deiner Arbeit bin.«
»Nachsichtig, nachsichtig« äffte Lasse sie nach und fühlte sich leider wieder einmal an seine Mutter erinnert. Obwohl der Altersunterschied zwischen ihm und Rachel wohl ähnlich groß war.
»Das wäre doch jetzt einmal die Zeit für eine Spitze« dachte er sich und verwarf den Gedanken ob seines sichtlich schlechtgelaunten Bosses.
Rachel knallte seinen schönen Pappschilder mit den ausarbeiteten Entwürfen auf den Tisch, wiederum deutlich sichtbar für alle Angestellten, die das Pärchen im gläsernen Büro wie in einem Aquarium betrachteten. Rachels Ex-Lovers aus früheren Zeiten konnten die Dialoge im Geiste zumindest mitsprechen und genossen das Schauspiel, das Showdown, das unvermeidliche.
»Ja genau, Nachsicht, mein lieber Lasse, können wir uns bei der angespannten Marktsituation nicht erlauben.«
Lasse wusste, dass »mein lieber Lasse« nur der Anfang vom Ende sein konnte. In der Woche vorher war er noch »mein Süßer«, »mein Liebster« und kurz davor noch »Mein Hengst« gewesen. Dies Kosenamen-Zeit war wohl endgültig vorbei: »Und was soll ich deiner Meinung nach verändern, was genau ist 'Mist'?«
Eine strategisch unkluge Frage, denn Rachel erwartete bei dem Stichwort »Mist« normalerweise keine Nachfrage sondern Schwanzeinziehen.
»Mein lieber Freund«, schlimmer ging es jetzt nicht mehr, »du machst jetzt mal deine Hausaufgaben, sonst verlierst du diesen Kunden.«
Lasse wusste genau, dass seine Präsentation Extraklasse war, das Briefing des Kunden Punkt für Punkt abgearbeitet und dann kreativ gebrochen, dass allen im Meeting schon der Atem gestockt war. Er war jetzt Teil des Rachel-Spiels, gespielt auf der Bühne ihres Glasbüros. Keine Premiere, sondern eine Wiederaufnahme wegen des großen Erfolges. Aber diesmal sollte sich das Publikum wundern, denn er hielt sich nicht an seinen Text und den schnellen Abgang: »Hör zu Rachel, du weißt ganz genau, dass das hier Spitzenqualität ist, first flush. Ich glaube aber vielmehr, du willst mich hier abservieren. Der Kunde vertraut mir mehr als dir.«
Ein ungeschriebenes Gesetz der Organisation besagt: Wer Die Organisation in Frage stellt und das Schauspiel entlarvt, ist zum Abschuss freigegeben. Die Rolle »Aufklärer« wurde auf der Bühne nicht besetzt, selbst die systemische Unternehmensberater hatten sich vor Jahren von dieser Rolle verabschiedet und lieber weitere Rechnung geschickt. Warum Lasse das ihm bekannte, das allen bekannte, Gesetz brach, war wohl seinem Hang zum Risiko zuzuschreiben. Er gab alles, endlich einmal ein überraschtes Gesicht von Rachel Rutenberg, der eiskaltesten Lady des Designuniversums, zu sehen zu bekommen.
Und Rachel enttäuschte ihn nicht: »Da hat dir der Ruhm wohl die Sinne vernebelt« war zunächst alles, was ihr einfiel. Kaum drei Sekunden später aber noch dies, mehr im brüllenden Ton: »Und diesen Nebel, Herr Torbo, beabsichtige ich nicht zu lichten. Ich nicht!«
Sie öffnete die Tür und konnte gerade noch sehen, wie sich in den Gesichtern einiger ihrer Angestellten die blanke Angst zeigte: »Raus und raus heißt: Bis 14 Uhr haben Sie ihren Schreibtisch zu räumen.«
Da war Lasse dann doch überrascht: »Du feuerst mich, deinen besten Designer? Nur weil ich deine Eitelkeit gekränkt habe?«
Im gesamten Großraumbüro war eine sakrale Stille eingekehrt. Die Gemeinde in der De|Sign-Kathedrale hatte andächtig der Predigt ihres Herrn und Meisters gelauscht. Und da hatte ein Abtrünniger zum ersten Mal das Haupt erhoben und die Wahrheit verkündet. An Atmen war über einen längeren Zeitpunkt nicht zu denken!
Rachel spürte die Erwartungshaltung ihrer Mitarbeiter und sie machte das, was sie am besten konnte: Auf dem Höhepunkt der Emotionen den Saft abdrehen. Sie drehte sich leicht nach rechts und sagte zu einer ihrer Assistentinnen: »Frau Herford, bitte zeigen Sie doch Herrn Torbo unsere Auswahl an Pappkartons, die wir zu diesem Zweck bereithalten.« Dann drehte sie sich um, schloss die Tür und kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück.
Für Lasse war die Situation längst nicht so souverän lösbar. Er hob die Hände gleichzeitig und sagte eher leise »Entschuldigt, Majestät, dass ich mein Talent in diesem Loch vergeudet habe. Ich werde beim nächsten Mal besser aufpassen.« Dann ignorierte er die dargebotenen Kartonalternativen und schritt von dannen. In seinem Büro angekommen, war der Plan schon geschmiedet. Eine, von ihm geliebte, Mindmap hatte schon ihre Krakenarme ausgebreitet und eine Fülle von Ideen an ihren Enden generiert.
Denn woran Rachel nicht im Traum dachte, sollte sich dennoch bewahrheiten: Lasse würde als erster Mann in einer langen Reihe von Männer Rache üben. Rache war von Studiobeginn an das Heimatgebiet von Rachel, schon wegen des klitzekleinen »l«-Anhängsels in ihrem Namen.
Lasse war auf diesem Gebiet neu, für ihn machte es aber, rein emotional, keinen Unterschied. Besser gesagt, nach einer Wartezeit von ein paar Tagen würde keiner seiner Kollegen mehr Verdacht schöpfen, dass ausgerechnet er, der treue und stille Lasse, der Auslöser des Chaos sein sollte.
Der Köder muss dem Angler schmecken
Lasse Torbo überließ bei seiner Rachel-Rache nichts dem Zufall. Er kaufte sich sogar eine Projektmanagement-Software, um den Überblick zu behalten. Den Überblick über die Zerschmetterung des Imperiums von Rachel Rutenberg und damit von Rachel Rutenberg selbst, da war sich Lasse sicher.
Er musste Rachel an ihrer empfindlichsten Stelle treffen, ihre Eitelkeit. Und diese Eitelkeit war mit ihrem Lebenswerk so gut wie verwachsen: De|Sign. Würde er das Studio ins Chaos stürzen, wäre es auch schnell um den Ruf von Rachel Rutenberg geschehen.
Lasse wusste aus Designer-Erfahrung, dass sich Kunden ungern länger an ein einzelnes Studio binden wollten. Zu groß waren die Befürchtungen der Top-Executives, dass diese »Designheinis« in ihrer hemmungslosen Selbstverliebtheit das Klientel nach Strich und Faden ausnehmen wollten. Zudem war die Kreativität unter den Designer eher dünn gestreut, die Geschäftsführer und Inhaber von Studios mussten schnell einen neuen Kunden aus der Schublade ziehen. Oder Präsentationen gegen andere Studios gewinnen in den so genannten »Pitches.«
Lasse hatte es genau auf die zwei Pitches abgesehen, die am Donnerstag dieser Woche in den Studioräumen von De|Sign über die Bühne gehen sollten. Zwei Interessenten hatten sich angekündigt, die Mitarbeiter von De|Sign waren seit drei Tagen und drei Nächsten mit der Präsentation des neuen Produktdesign beschäftigt.
Читать дальше