»'Du dreckiges Kommunistenschwein'. Aha, der Mann scheint mich zu meinen. Und Pistolen hat er auch dabei. Und er schießt. Wann hört das eigentlich endlich mal auf? Jetzt muss ich mich ausruhen, ich muss mich hier hinlegen. Die Frau hält mich, das ist gut so. Danke, das ist gut so, das ist schön, schön.«
»Warum ist es plötzlich so kalt. Na ja, es ist Oktober, aber so kalt? Oh Gott, habe noch so viel zu schreiben. Ich muss jetzt aber wirklich schreiben. Nach Hause und schreiben. Es knallt so laut. Was ist denn das hier für ein Film? Und warum tut mir die Brust so weh? Und das ist jetzt Blut? Ne, ne, meine Aufgabe hier ist noch nicht beendet. Wirklich noch nicht.«
»Nein, nein« schrie Chiara immer wieder, wachte auf, war schweißnass in ihrem Pyjama und schlief wieder ein. Sie hatte immer wieder die schlimmsten und doch irgendwie schönen Schmerzen. Sie hörte die Schüsse noch nachklingen und konnte es kaum glauben, gerade jetzt nicht so tot zu sein wie John Lennon, JFK, Martin Luther Kind, Rudi Dutschke, Anna Politkowskaja ...
Mad-Men-Women-Livestream
Im Studio von De|Sign spielten sich erstaunliche Dinge ab: Normalerweise senkte sich in den Abendstunden über das Business eine sakrale Stille, man sah wenig Deckenlicht, die Gesichter der Mitarbeiter waren nur von ihren Notebooks beleuchtet. Nach 20 Uhr, wieder so ein ungeschriebenes Gesetz von Rachel Harris, war das Studio per LED-Technik in sanftes Licht zu tauchen und Gespräche nur in den schalldichten Konferenzräumen erlaubt. Diese heilige Zeit war die Stunde der Kreativität des Top-Personals und das Kapital von De|Sign. Die Befragung der Belegschaft hatte gezeigt, dass die meisten Super-Selling-Ideen zwischen 20 und 24 Uhr entstanden waren. Fraglich war eigentlich nur, warum die Mitarbeiter den Zeitpunkt so genau festlegen konnten? Schließlich gab es keine Geburtsurkunden mit Vermerk von Datum, Uhrzeit und Gesundheitszustand der Idee.
Heute war alles anders: Die LED-Technik hatte völlig versagt oder jemand hatte sie umprogrammiert – alles war taghell, fast schon übernatürlich hell wie im Maggi-Koch-Studio (die Inneneinrichtung eine der frühen Schöpfung von Rachel). Fast alle Mitarbeiter waren anwesend und veranstalteten höchst unterschiedliche Dinge in ihren Kojen: Nadia, Geos Webdesignerin, hatte aus allen verfügbaren iPads des Studios ein Kartenhaus gebaut, auf den Bildschirmen waren die Poker-Chatrooms aus allen Teilen der Welt zu sehen.
Eva Schäfer hatte ihren Pförtnerstand verlassen und dirigierte an einem improvisierten Pult La Traviata. Ihre Ohrstöpsel waren so laut aufgedreht, das jeder der Umstehenden mühelos folgen konnte.
Die Praktikantin Chiara hatte sich im 3-D-Drucker eine ansehnliche Anzahl von Waffen ausdrucken lassen, die sich abwechselnd an die Stirn hielt und in den Mund steckte. Zum Schluss richtete sie mittels Stativen die Waffen auf sich selbst. Erst da war sie zufrieden, denn sie konnte nun abwechselnd in sieben verschiedene Pistolenmündungen blicken. Sieben Leben hatte Chiara-Kätzchen zu verschenken und ihr ernster Blick schien zu verraten, dass hinter jedem einzelnen ein ganz Großer zu finden war.
Auf jeder Etage gab es Menschen mit mehr oder weniger vielen Kleidern am Leib zu entdecken. Es gab Urschreie, Totengesänge, Meditationen, Doggystyle-Kopulationen, Ekstase-Tanzen, Weinen an kräftigen Schultern und ohne Schultern, Hippiemädchen-Gitarren und eine Polonaise, bei der jeder Mitläufer eine andere Brille aufhatte:3-D-rot/grün, 3-D-Shutter, Yps-Röntgen, Woody-Allen-Schwarzrand, Eduard-Zimmermann-Glasbaustein, Sonnenbank-kreisrund.
Auf dem Dach bot der Studio-Hubschrauber ein Karussell an – die ganz, ganz kreativen Design-Kreativen hatten Babytragetücher an die Rotorblätter gehängt, die sich nun sanft drehten. Die Mutigen ließen sich über die Dachkante bewegen, schauten in die erleuchtete Hafencity, die Augen groß wie Neugeborenen, geborgen in den Mutterleibs-Tüchern.
Zudem hatte jedes Stockwerk eine eigene Klangfarbe dank Live-Stream zu bieten: Im fünften der Woodstock-Stream mit Crosby, Still, Nash & Young, im sechsten der Badtaste-Stream mit Udo Jürgens, im siebten der TV-Serien-Stream mit Magnum, im achten der Worldmusic-Stream mit Hamid Baroudi, in neunten der Movie-Stream mit Casablanca und im zehnten der Verdi-Stream mit Karaoke-Dirigieren.
Die Etagen null bis vier hatten sich in Catering-Abteilungen verwandelt, die De|Sign-Mitarbeiter bauten aus Kartons und alten Displays unter anderem die KaDeWe-Feinschmecker-Etage nach. Mit Hilfe von Tim-Mälzer-Masken wurde seine alte Vox-Kochsendung Schmeckt nicht gibt's nicht liebevoll wieder belebt. Im improvisierten Atlantik versuchten Tiefkühl-Lachse, ihre Laichplätze im nächsten Stockwerk zu erreichen.
Nirgends, wirklich nirgends war irgendeine Art von Droge zu riechen, zu schmecken oder zu sehen: Kein Alkohol, keine Zigaretten, no drugs on the toilette, keine Tabletten, nichts. Einem späten Besucher hätte sich der Grund für diese beachtliche Verwandlung deshalb nicht gerade erschlossen. Ein Equinox-Verantwortlicher hätte angesichts des Chaos eine Veränderung der Marketing-Strategie empfohlen – und ein anderes Studio mit der Umsetzung beauftragt. Denn diese Designer waren einfach zu nah an ihren Träumen und das war nun mal unprofessionell. Sie hatten sich dem hingegeben, was in ihrem Business als No go bezeichnet wurde: dem Kollektiv-Traum.
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